Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Neujahr
Liebe Schwestern und Brüder,
ich gestehe es! Es ist mir zwar ein wenig peinlich, aber ich gebe es zu. Eigentlich hätte ich es nämlich wissen müssen. Aber ich gebe zu: Bis vor wenigen Tagen hatte ich keine Ahnung. Warum sich dieser Tage alle Welt einen "guten Rutsch" wünscht - ich wusste es nicht.
Man macht es halt, 'zig mal, jedem, dem man begegnet, wünscht man einen "guten Rutsch", und oftmals sagt man noch spaßeshalber dazu: "Aber rutschen Sie dabei ja nicht aus!"
Dabei hat der Wunsch mit dem Rutsch absolut nichts mit Rutschen zu tun. Ganz und gar nicht!
Ich wusste es auch nicht. Bis mir vor einigen Tagen jemand erzählte, woher dieser eigenartige Wunsch eigentlich kommt. Und da war ich mehr als überrascht!
"Rosh Hashana" heißt der erste Tag des Jahres auf Hebräisch. "Rosh", das ist das Wort für "Kopf", für das "Haupt". Und von daher wird es dann auch zur Bezeichnung für den "Ersten" oder auch den "Anfang". Und "Shana", das ist das hebräische Wort für das Jahr. "Rosh Hashana", das ist dementsprechend ganz einfach der Jahresanfang.
Und einen guten Jahresanfang, den haben sich unter uns auch die Juden gewünscht. Sie taten es jedoch nicht auf Hebräisch, sondern auf Jiddisch. Und im Jiddischen wird aus dem "Rosh" ein "Rutsch". Sich einen guten Rutsch zu wünschen, das heißt also nichts anderes, als sich einen guten Anfang zu wünschen. So wünschten sich die Juden unter uns viel Glück und gutes Gelingen für das neue Jahr.
Seit ich es weiß, verwende ich diesen Gruß umso lieber. Und ich verwende ihn jetzt nicht mehr gedankenlos. Jetzt ist er für mich plötzlich zu einem ganz besonderen Wunsch geworden. Jetzt wünsche ich nämlich einen guten Rutsch im Bewusstsein, dass es ein jiddischer Wunsch ist. Und ich wünsche ihn in Verbindung mit dem Judentum, mit dem Volk, dem Jesus Christus angehörte, denn Jesus war Jude, in Verbindung mit dem Volk, auf dessen Schultern unser Glaube ruht, denn ohne den Glauben Israels gäbe es unseren Glauben nicht.
Dieser Wunsch bringt mir nun unsere Wurzeln in Erinnerung. Und weil er gleichzeitig Glück für das Kommende wünscht, für das nun beginnende Jahr, deshalb verbindet dieser Wunsch die Erinnerung an die Wurzeln, an unsere Herkunft und das was war, mit der Hoffnung auf die Zukunft.
Und das ist eine gute Basis. Denn wer sich seiner Wurzeln bewusst ist, wer seine Geschichte ernst nimmt und nicht verdrängt, wer auch um die Unzulänglichkeiten, die er bereits erfahren musste, weiß, der ist ganz gut gerüstet für das, was kommt, der wird ohne Selbstüberschätzung und auch mit dem nötigen Weitblick in diese Zukunft hineingehen, der kann sich getrost dem stellen, was auf ihn zukommt.
So wünsche ich Ihnen heute Morgen in enger Verbindung mit dem Volk der Bibel einen guten Rutsch. Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch für das 2000. Jahr unserer Geschichte.
Amen.
(gehalten am 1. Januar 2000 in der Pauluskirche, Bruchsal)