Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
23. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Ez 33,7-9)
So spricht der Herr: Du Menschensohn, ich gebe dich dem Haus Israel als Wächter; wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst, musst du sie vor mir warnen. Wenn ich zu einem, der sich schuldig gemacht hat, sage: Du musst sterben!, und wenn du nicht redest und den Schuldigen nicht warnst, um ihn von seinem Weg abzubringen, dann wird der Schuldige seiner Sünde wegen sterben. Von dir aber fordere ich Rechenschaft für sein Blut. Wenn du aber den Schuldigen vor seinem Weg gewarnt hast, damit er umkehrt, und wenn er dennoch auf seinem Weg nicht umkehrt, dann wird er seiner Sünde wegen sterben; du aber hast dein Leben gerettet. (Ez 33,7-9)
Wir waren essen in einem ganz ordentlichen Restaurant. Am Nachbartisch saß eine kleine Gesellschaft - vermutlich bei einem Geschäftsessen. Eine junge Frau trug einen hellen Hosenanzug und hatte die recht teuer aussehende Jacke neben sich über einen Stuhl gelegt. Und direkt hinter ihr befand sich das Vorspeisenbuffet.
Und es kam, wie es fast kommen musste: Der Kellner richtete neue Platten, garnierte sie kunstvoll, nahm zwei oder drei auf den Arm, hielt sie schräg und die ganze Olivensauce lief über die helle Jacke des Hosenanzuges - Sie bemerkte nichts und er ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Liebe Schwestern und Brüder,
wir hatten es gesehen. Wir schon, die junge Frau nicht.
Aber eigentlich ging uns das alles ja gar nichts an. Wenn die so dumm war, die Jacke einfach so hinzuhängen. Was sollten wir uns da einmischen...
Nun, wir haben uns eingemischt. Und ich bin froh darüber.
Meine Begleiterin hat jener Frau einen Hinweis auf die versaute Jacke gegeben und die wiederum hat die Wirtin kommen lassen und ihr den Schaden gezeigt.
Die Wirtin hat das zwar bedauert, konnte aber leider nichts machen, denn das konnte ja jedem passiert sein und wer weiß, ob das nicht gar irgendwo anders geschehen war. Sie konnte da gar nichts machen, bis die Geschädigte sagte: "Aber die Frau da drüben, die hat doch alles ganz genau gesehen."
Ab diesem Zeitpunkt war der Abend für uns gelaufen. Die Frau mit der versauten Jacke bedankte sich zwar vielmals, die Wirtin aber hat uns ab diesem Zeitpunkt, zumindest mit ihren Blicken, mehr als einmal getötet. Und bedient wurden wir auch nur noch so, dass wir alles daransetzten, möglichst rasch fertig zu werden und das Lokal verlassen zu können.
Der Abend war gelaufen. Wir hatten uns eingemischt - und ich bin froh darüber. Hätten wir es nicht getan, könnte ich an jenen Abend nicht mehr mit gutem Gewissen zurückdenken.
Wir mussten uns einmischen, denn man darf nicht zulassen, dass Unrecht geschieht. Wo es nur möglich ist, muss man den Mund aufmachen, auch dann, wenn es Nachteile für einen selbst mit sich bringen sollte.
Gott selbst macht es in der heutigen Lesung dem Propheten Ezechiel unmissverständlich klar: Wenn er einfach wegschauen, sich nicht einmischen, wenn er seinen Mund halten würde, dann würde Gott Rechenschaft von ihm verlangen.
Wir sind mit verantwortlich für all das, was um uns herum geschieht. Und keiner von uns kann so tun, als ginge ihn all das nichts an.
Deshalb muss Kirche sich einmischen. Deshalb ist es gut und richtig, wenn sich die Bischöfe zur bevorstehenden Bundestagswahl äußern, auch wenn das manchem jedes Mal sauer aufstößt.
Und wir müssen uns einmischen. Jeder und jede Einzelne. Jeder dort, wo er steht und so wie er es kann.
Dazu gehört nicht nur die Selbstverständlichkeit, am 18. September wählen zu gehen - das ist ja wirklich das Mindeste, was man von jemandem verlangen kann.
Nein, auch dort, wo ich nicht direkt gefragt werde, auch dort muss ich meinen Mund aufmachen. Wenn Unrecht geschieht oder manches in einem Licht dargestellt wird, das ihm nicht entspricht, dann kann ich das nicht einfach hinnehmen. Es gilt, den Finger in die Wunden zu legen und die Dinge beim Namen zu nennen.
Alles Mitgefühl der Welt deshalb den Hunderten, die einen lieben Menschen bei der jüngsten Katastrophe in den USA verloren haben, alle Hilfe denen, die sie jetzt dringend brauchen. Aber auch das deutliche Wort, dass die Weltmacht USA endlich ihre Verantwortung in Sachen Umweltschutz und Bewahrung der Schöpfung erkennen muss. Denn diese Katastrophen sind nicht einfach von Gott geschickt. Sie sind zu einem guten Teil von uns Menschen verursacht. Es reicht nicht aus, Gott beständig auf den Lippen zu führen - ich muss auch seinen Willen tun!
Jedes Verständnis und jede Anstrengung ob der Schwierigkeiten der Energieversorgung für die Zukunft. Aber jeden erdenklichen Einspruch gegen das erneute Experimentieren mit einer letztlich nicht zu beherrschenden Kernenergie und all den unvorstellbaren Folgen für nachfolgende Generationen.
Und auch alle Begeisterung, die ein Weltjugendtag mit sich bringen kann und alle Achtung und jeden Respekt vor der Lebensleistung des verstorbenen Papstes. Aber auch das mahnende Wort, wenn die Schlangen vor dem Grab Johannes Pauls II. im Petersdom weit länger sind als die vor dem Petrusgrab - ganz zu schweigen von den Betern vor dem Tabernakel.
Und jede Vorsicht und ganz große Zurückhaltung, wenn nicht nur in den Medien der Eindruck entsteht, als sei das Wichtigste in unserer Kirche der Papst. Ja, wir sind gekommen, um ihn anzubeten, aber das gilt einzig und allein Gott. Personenkult hat in unserer Kirche nichts verloren.
Deutlich die Stimme zu erheben, wenn Dinge aus dem Ruder laufen, Weichenstellungen falsch getroffen werden und Unrecht geschieht, dazu sind wir nicht nur aufgefordert, vor Gott ist es unsere Pflicht - die Pflicht eines jeden von uns!
Wenn du nicht redest, sagt Gott zu Ezechiel, dann änderst du nichts mit deinem Schweigen. Von dir aber fordere ich Rechenschaft. Und vergessen wir nie: Er fordert sie auch von uns.
Amen.
(gehalten am 3./4. September 2005 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)