Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


24. Juni - Hochfest der Geburt Johannes des Täufers

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Wenn man mich danach fragen würde, was für Bücher ich am liebsten lese, dann müsste ich gar nicht lange überlegen. Es waren eigentlich nie Romane oder sonstige unterhaltsame Publikationen. Gefesselt haben mich seit jeher Biographien, die Lebensbeschreibungen von mehr oder minder wichtigen Persönlichkeiten, die hab' ich eigentlich schon während meiner Schulzeit richtiggehend verschlungen. Ich fand - und ich finde das immer noch - hoch interessant, so den Werdegang eines Menschen von seiner frühesten Kindheit an nachzuvollziehen. Wie er groß geworden ist, wie er berühmt wurde, was er gedacht und was ihn bewegt hat. Zu sehen, dass auch die ganz berühmten Persönlichkeiten Menschen aus Fleisch und Blut gewesen sind mit all den Fehlern und Schwächen, die Menschen eben ausmachen.

Solche Lebensbeschreibungen haben mich immer wieder fasziniert. Und so haben sich auch im Laufe der Zeit eine ganze Reihe solcher Biographien in meinem Bücherregal angesammelt, Biographien der unterschiedlichsten Menschen. Alle aber haben eines gemeinsam: Ich habe keine einzige Lebensbeschreibung gekauft von jemandem, der noch am Leben ist. Gekauft habe ich solche Bücher erst über Personen, die schon tot sind. Und das ist nicht zufällig so.

Wenn ich ein Buch über jemanden kaufen würde, der noch am Leben ist, ja woher sollte ich dann wissen, ob da nicht noch etwas Wichtiges fehlt. Vielleicht macht der morgen oder übermorgen etwas, was sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen wirft. Das Leben von jemandem, der noch am Leben ist, das kann man schließlich noch nicht abschließend würdigen. Abschließend überblicken kann man es erst, wenn er gestorben ist, wenn klar ist, wer er war, was aus ihm geworden ist und was er gewirkt hat. Was ein Mensch wirklich gewesen ist, wer er tatsächlich war, das weiß man schließlich erst richtig ganz am Ende seines Lebens, dann, wenn er gestorben ist, an seinem Todestag.

Von daher haben die Menschen - denke ich - dem Todestag auch von jeher eine ganz große Bedeutung beigemessen. Der Todestag als der Tag der Vollendung, der Tag der großen Bilanz, der Tag, an dem sich endgültig entscheidet, ob mein Leben geglückt ist, oder nicht. Und auf diesen Tag galt es sich daher auch ganz besonders vorzubereiten.

Es gab im Mittelalter keine größere Angst der Menschen, als etwa unvorbereitet plötzlich sterben zu müssen, vielleicht in der letzten Stunde seines Lebens noch einmal alles über den Haufen zu werfen und keine Zeit mehr zu haben, es zu korrigieren, durch einen letzten großen Fehler etwa, alles zu verlieren, worum man sich ein ganzes Leben lang gemüht hatte. Denn bis zum Schluss konnte ich mir ja in keinster Weise sicher sein, erst im Tod würde sich ja entscheiden, ob mein Leben geglückt ist oder etwa nicht. Ganz am Schluss erst würde Gott ja darüber richten, ob ich es wert wäre, bei ihm zu sein, ob er mit mir gerade noch etwas anfangen kann oder ob etwa schon Hopfen und Malz verloren war. Ganz am Schluss würde er mein Leben betrachten und dann sein Ja oder auch sein Nein zu mir sagen.

So haben es Generationen von Christen geglaubt und so wurde es auch immer wieder gepredigt: Strengt euch an, hört keinen Augenblick auf, euch zu mühen, ihr müsst durchhalten bis zum Schluss, denn erst dann wird sich schließlich zeigen, ob das Leben gelungen ist oder nicht. Also stets wachsam sein, nie ablassen, immer bereit sein, ja keine Chance verpassen, denn Bilanz gezogen wird schließlich erst am Ende. Und vor dieser Bilanz hatte man daher auch ganz gehörig Angst. Und was für mich noch viel schlimmer ist: Diese Bilanz am Ende war oftmals dann das einzig wichtige überhaupt im ganzen Leben. Das Leben selbst, es war dann eigentlich nur noch die Vorbereitung auf diesen Tag, ein Testfall, eine mehr oder minder harte Prüfstrecke für das eigentliche, das richtige, das endgültige Leben.

Generationen von Christen ist das so eingetrichtert worde,n Generationen von Christen haben das so geglaubt. Und mögen es noch so viele gewesen sein, das ändert nichts daran, dass dies ein grausiger, ein furchterregender, ein beklemmender Glaube ist. Und wer dem Irrtum dieser Vorstellung einmal selbst aufgesessen ist, der weiß, in welche Engen dieser Glaube hineinführen kann.

Die Botschaft Jesu Christi aber, die ist eine andere. Und einer der wichtigsten Hinweise darauf ist für mich, neben vielen anderen Berichten in der Bibel, das Fest, das wir heute gemeinsam feiern. Wir feiern heute schließlich nicht, wie wir es sonst bei Heiligen zu tun pflegen, einen Todestag, wir feiern den Geburtstag, den Geburtstag eines Menschen, den Geburtstag Johannes des Täufers. Wir feiern nicht die Vollendung, nicht den Abschluss, nicht die Bilanz eines Lebens, wir feiern dessen Anfang.

Gut, wir glauben das tun zu können, weil wir im Nachhinein wissen, dass das Leben Johannes des Täufers wichtig und von großer Bedeutung gewesen ist, und weil wir im Nachhinein spüren, dass Gott in diesem Leben von Anfang an mit am Werk gewesen sein muss.

Gott tut das aber nicht im Nachhinein! Er tut es von Anfang an. Er weiß von Anfang an, von jedem Einzelnen von uns, dass unser Leben wichtig und von großer Bedeutung ist, er weiß dies, weil er darum weiß, wozu er jeden Einzelnen von uns braucht. Und er ist im Leben von jedem von uns, von Anfang an mit dabei und mit am Werk.

Es ist sein Werk, wenn ein Mensch neu das Licht des Lebens erblickt, Gott ist mit am Werk, wenn wir durch dieses Leben hindurchgehen, es gibt keinen unserer Tage, der nicht sein Geschenk wäre. Welch eine absurde Vorstellung, dass das eigentliche Leben erst mit dem Tod beginnen würde, es wird vielleicht in eine neue Dimension verwandelt, es wird vielleicht befreit und vollendet sein, aber kann es eigentlicher sein, als das Leben, das uns dieser Gott tagtäglich aufs Neue schenkt?

Vielleicht müssen wir ganz einfach aufs Neue lernen, was Leben eigentlich bedeutet. Vielleicht müssen wir uns nur wieder die Frage stellen, was unser Leben lebenswert macht. Und vielleicht müssen wir das dann ganz einfach tun und nicht einem falschen Lebensideal hinterherlaufen, das uns die Werbung oder die öffentliche Meinung diktiert. Wir müssen ganz einfach das in den Mittelpunkt stellen, was uns gemeinsam glücklicher macht, was uns Zufriedenheit und Heil schenkt, und wahrscheinlich werden wir genau dort spüren, was das heißt, wenn uns Jesus sagt, dass wir das Leben in Christus bereits besitzen, dass dieses Leben bereits begonnen hat. Es hat bereits begonnen mit unserer Geburt.

Gut, ich werde mir deswegen auch weiterhin wohl keine Biographien kaufen von Menschen, die noch am Leben sind. Aber ich werde mich fortan wohl vor dem Irrtum hüten, dass nur, weil ich ein Leben erst dann überschauen kann, wenn es vorüber ist, dass dies auch bei Gott so sein muss. Ich werde mich vor dem Irrtum hüten, dass wir auf einen Tag der großen Bilanz zugehen, so wie wir das aus der Wirtschaft etwa kennen. Und ich kann mir mittlerweile immer weniger vorstellen, dass da hintendran etwas ganz anderes beginnen soll.

Das Leben, das uns Christus schenken will, das hat bereits begonnen. Wir müssen es ganz einfach zu leben lernen. Ohne Angst, ohne die Zwänge, die wir uns normalerweise selbst machen. Wir dürfen dem Leben, ja auch unserem eigenen Leben, wir dürfen diesem Leben trauen, nicht, weil wir die Bilanz schon vorliegen hätten und auch nicht, weil wir wüssten, was noch alles auf uns zukommt. Wir dürfen dem Leben trauen, weil Gott es mit uns wagt, weil er schon lange begonnen hat, es mit uns zu wagen und es uns zuzutrauen.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 25. Juni 1995 in der Johanneskirche, Mannheim-Rheinau)