Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


Ostersonntag (Joh 20,1-9)

Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; sie liefen beide zusammen dorthin, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als erster ans Grab. Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging aber nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden an einer besonderen Stelle. Da ging auch der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein, er sah und glaubte. Denn sie wussten noch nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste. (Joh 20,1-9)

Der Geburtstag ist kein schöner Tag. Ich stelle ihn mir zumindest alles andere als schön vor. Und ich meine jetzt nicht jenen Tag, der mit schöner Regelmäßigkeit einmal im Jahr kommt und uns wieder bewusst macht, dass wir ein Jahr älter geworden sind. Ich meine den eigentlichen Geburtstag, den Tag, an dem ein Kind geboren wird.

Und selbstverständlich denke ich jetzt nicht an die Mutter, die nach den Monaten der Schwangerschaft zum ersten Mal ihr Kind im Arm hält. Ich denke ganz einfach an das Kind. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein schöner Tag ist, ein Geburtstag. Es ist ganz sicher kein schöner Tag für das Kind.

Liebe Schwestern und Brüder,

zum Glück erinnert sich keiner von uns mehr daran. Ich möchte nicht wissen, was ich wohl empfunden habe, was mir durch den kleinen Kopf gegangen ist, als es daran ging, auf die Welt zu kommen.

Habe ich die Wärme im Mutterleib wirklich so gerne verlassen? Nichts anderes habe ich gekannt! Muss ein Kind nicht eine unbändige Angst vor dem Geborenwerden haben? Eine Tortur ist es - für die Mutter wie für das Kind. Und die ersten Minuten in der Kälte dieser Welt, mit dem Schlag auf den Hintern, dem ersten Schreien - etwas, was noch so oft in diesem Leben folgen wird... - ganz sicher kein schöner Augenblick! Und es braucht vermutlich eine ganze Zeit, bis ein Kind diese Welt und dieses Leben so richtig zu schätzen und zu genießen weiß.

Vielleicht sind die Gefühle, die das Kind mit diesem Tag verbindet, und all die Gedanken, die es vor diesem Tag wohl plagen dürften, vielleicht sind sie ganz ähnlich wie unser Empfinden, wenn es um den nächsten Geburtstag geht.

Und jetzt meine ich erneut nicht den Tag, an dem wir ein Jahr älter werden, sondern den wirklichen nächsten Geburtstag: den Tag, den man in der Geschichte unserer Kirche häufig als den "Geburtstag für den Himmel" bezeichnet hat, den Tag, an dem ich sterben werde, sterben muss.

Und allein schon dieser Ausdruck macht bereits deutlich, dass es kein Tag ist, auf den man sich gemeinhin freut. Es ist für mich ganz ähnlich wie beim Tag des Geborenwerdens. Der Todestag ist kein Tag, den man herbeisehnt.

Daran kann auch die Verheißung vom Reich Gottes, die Jesus so prächtig und farbenfroh ausgemalt hat, nur wenig ändern. Was diese Botschaft wirklich für unser Leben bedeuten soll, haben ja nicht einmal die Jünger, nicht einmal die, die mit Jesus zusammen gewesen sind, auch nur annähernd begriffen.

Nicht umsonst war der erste Ostertag - jener Tag, an dem wir das mit der Auferstehung im Nachhinein so richtig fest machen - nicht umsonst war das kein Tag des Jubels und der Begeisterung.

Die Jünger waren verängstigt hinter verschlossenen Türen, die Frauen schwiegen aus Furcht und Entsetzen. Und begriffen was da vor sich gegangen war, hat an diesem Tag wohl kein einziger. Dazu hat es Wochen und Monate gedauert.

In den Augen der Welt war Jesus tot, mit unseren Augen betrachtet war seine Sache gescheitert, für menschliches Ermessen war alles zu Ende. So, wie der Tod eben Dinge beendet, einen Schlussstrich zieht und nichts mehr übrig bleibt außer geplatzten Träumen, vertanen Chancen, Trauer und Schmerz.

Um in Ostern einen Festtag zu sehen, einen Tag der Freude und des Feierns, dazu mussten die Jünger erst lernen, diesen Tag nicht mit unseren Maßstäben zu messen, ihn anders als mit unseren Augen zu sehen. Und genau dazu lädt Ostern ein: Ostern ist die Einladung dazu, die Welt nicht mit unseren Augen zu betrachten.

Nur, mit was für Augen sollen wir dann schauen? Wir haben keine anderen.

So wie das ungeborene Kind nur seine Augen hat und mit diesen Augen nicht in der Lage ist, Bäume und Berge, Flüsse und Tiere zu sehen, solange es eben ungeboren ist und noch im Mutterleib heranwächst. Andere Augen hat es aber nicht. Womit sollte es sehen, wenn nicht mit diesen Augen?

Nun, mit den inneren Augen! Mit denen, mit denen man Dinge erahnt, die man eben nicht mit den beiden Augen im Kopf wahrnehmen kann. Mit den Augen, mit denen das Kind etwa den Herzschlag der Mutter vernimmt, die ihm eine Ahnung davon vermitteln, dass es noch etwas anderes gibt, dass es mehr gibt, als das, was unsere beiden Augen zu sehen in der Lage sind.

So wie auch wir erahnen können, dass unsere Augen nicht alles sehen, dass sie unsere Welt manchmal sogar sehr verzerrt, sehr verkürzt und nur ausschnitthaft wahrnehmen.

Wir merken das schon, wenn wir auf einen Berg etwa hinaufsteigen, die Welt aus großer Höhe betrachten, dann verändert sich die Perspektive, und die Welt sieht plötzlich ganz anders aus, als wir sie normalerweise erleben. Es kommt plötzlich Abstand ins Leben hinein, ein Abstand zu dem Leben, das wir tagtäglich erleben.

Von einem hohen Berg herunter sieht alles plötzlich ganz klein und unscheinbar aus. Alle Geschäftigkeit wirkt erheiternd in ihrer Spielzeughaftigkeit, sie verliert all ihre Wichtigkeit. Unterschiede zwischen den Menschen, Ansehen, Amt und Würde lassen sich schon gar nicht mehr ausmachen. Die großen Themen der Politik und alle theologischen Spitzfindigkeiten verlieren ihre Bedeutung angesichts der Weite, die sich vor den Augen plötzlich auftut.

Da ist ein Ausblick in eine schier unendliche Weite, ein Blick, der unserem alltäglichen Schauen ansonsten verborgen bleibt. Er eröffnet sich erst dann, wenn man hinaufsteigt, hinaussteigt und die Perspektive verändert.

Ostern lädt dazu ein. Es schenkt uns keine anderen Augen, aber es eröffnet uns ein Gespür dafür, wie die Welt mit Gottes Augen betrachtet wohl aussehen mag. Und diese Ahnung, dieser anfängliche Versuch, die Welt nicht mit unseren, das Leben mit Gottes Augen zu sehen, das verändert. Das nimmt dem Geburtstag nicht seinen eigenartigen Geschmack, das macht den Todestag noch nicht zum Freudentag, aber es verändert den Ostertag:

Die Niedergeschlagenheit der Jünger weicht plötzlich vor der Erscheinung des Auferstandenen. Die Beklemmung des Grabes wird verdrängt durch das Halleluja und der Schlussstrich, den jeder Tod nach menschlichem Ermessen immer ziehen muss, wird durchkreuzt, durchkreuzt von der Botschaft und der Verheißung eines ewigen Lebens, eines Lebens in Fülle, zu dem auch wir berufen sind.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 16. April 2006 in der Peterskirche, Bruchsal)