Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
30. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 22,34-40)
In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,34-40)
Eine Pflegschaft übernehmen - das heißt, sich um einen Menschen kümmern, der einem anvertraut wird.
Da ist jemand, für den ich die Behördengänge erledige, dessen Finanzen ich verwalte und für den ich Entscheidungen treffen muss, weil er es alleine nicht mehr schafft.
Liebe Schwestern und Brüder,
das ist eine gute Sache!
Viele würden ohne dieses Instrument, ohne jemanden, der ihnen all dies abnimmt, nicht mehr zurechtkommen.
Was aber, wenn so jemand diese Aufgabe nicht ernst nimmt? Was, wenn ihm eigentlich völlig egal ist, was derjenige, der ihm doch anvertraut ist, wirklich braucht: Die Gesundheit des Betreuten fängt an zu leiden und der Vormund kümmert sich nicht darum. Obwohl die Anzeichen offensichtlich sind, wird kein Arzt verständigt, keine Medikamente, keine Therapie in Angriff genommen. Der betreute Mensch hat sein Leben nicht mehr im Griff, schläft fast nicht mehr, erstickt gleichsam in der Unordnung, und der Vormund nimmt es nicht einmal zur Kenntnis.
Und sagen Sie jetzt nicht, so etwas gäbe es doch gar nicht. Ich kenne unzählige Beispiele. Und ab und an muss ich mich selbst wohl auch mit dazurechnen.
Ein Mensch ist nämlich auch mir anvertraut - genauso wie Ihnen. Und der bin ich selbst.
Ich habe die Vormundschaft, die Pflegschaft die volle Verantwortung für mich selbst. Ich bin mir und Sie sind sich anvertraut. Und fragen Sie sich jetzt ruhig einmal - und bitte ganz ehrlich - fragen Sie sich, wie Sie mit sich selbst umgehen.
Sie brauchen nichts darauf zu sagen, aber ich fürchte fast, wenn wir mit anderen so umgehen würden, wie wir es manchmal mit uns selber tun, diese anderen würden sich ganz schön bedanken!
Ich weiß, dass mein Körper mehr Schlaf und weniger Aktivität ganz dringend braucht, und trotzdem bin ich dauernd auf Achse und halte mich nur noch mit Unmengen von Kaffee einigermaßen fit. Ich weiß, dass ich etwas für meine Gesundheit tun müsste, Sport treiben müsste, und nichts geschieht. Wir wissen darum, wie wichtig es ist, zur Ruhe zu kommen, Gedanken wieder neu sammeln zu können. Und genau das ist der Bereich, in dem als Erstes Abstriche gemacht werden. Man weiß das alles...
Und Jesus weiß, dass es so ist.
Nicht umsonst erinnert er nicht nur daran, dass wir den Nächsten lieben müssen, nicht umsonst macht er zum Maßstab dafür die Liebe zu uns selbst.
Und er erinnert dabei - und zwar ganz gewaltig - an unsere Verantwortung uns selbst gegenüber. Wer mit seiner Gesundheit Raubbau treibt, der versündigt sich. Und wer sich selbst nichts gönnt, wer innerlich stumpf und freudlos geworden ist, der kann nicht mehr offen und liebevoll auf andere zugehen, der hält sich selbst ja nicht einmal mehr. Wie sollte er anderen eine Stütze sein.
Wie sagt das Sprichwort so schön? Wer verlernt hat zu genießen, der wird am Ende selber ungenießbar.
Lassen wir uns von Jesus Christus wieder einmal daran erinnern, dass die Liebe zum Nächsten in der Liebe zu Gott das Hauptgebot unseres Glaubens ist. Aber lassen wir uns von ihm genauso deutlich sagen, dass der Maßstab dafür, die Liebe zu uns selbst ist, zu dem Menschen, der mir von Anfang an und für den Rest meines Lebens anvertraut ist.
Wenn ich diesen Menschen - mich selbst - nicht voller Achtung, voller Verantwortungsbewusstsein und voller Liebe behandle, wie will ich mir dann einbilden, einem anderen wirklich in Liebe begegnen zu können.
Amen.
(gehalten am 22. Oktober 2005 in der Antoniuskirche, Bruchsal)