Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Predigt am Karfreitag
Liebe Schwestern und Brüder,
ich war gerade mal 10 Jahre alt, als ich die Schule gewechselt habe. Nach der Grundschule kam ich aufs Gymnasium.
Vieles von dem, was damals gewesen ist, habe ich im Lauf der Zeit natürlich vergessen. Eines aber ist in mir hängen geblieben, und zwar so, als wäre es gerade gestern passiert.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich damals - dort an der Heimschule Ettenheim - einen jungen Pfarrer erlebt. Er war der Schülerseelsorger und so jung und dynamisch wie junge Pfarrer halt sind. Und ich glaube, wir alle haben ihn, unseren neuen Reli-Lehrer, ungemein verehrt.
Die Erinnerung an ihn, die ist im Gegensatz zu der an viele andere Lehrer, die ich gehabt habe, immer lebendig geblieben und vielleicht sogar immer lebendiger geworden. Und das liegt nicht etwa daran, dass sein Unterricht so außergewöhnlich gewesen wäre. Es liegt daran, dass er ein passionierter Bergsteiger war.
Wenn ich mich recht erinnere, wollte er in den Sommerferien mit ein paar Internatsschülern in die Alpen fahren. Jetzt, im Frühjahr, jetzt wollte er sich mit ihnen darauf vorbereiten. Die Gruppe war zum Klettern an den Feldberg gefahren.
Wir erfuhren am anderen Tag davon im Unterricht. Unser Klassenlehrer musste es uns mitteilen. Er unterrichtete uns davon, dass unser Reli-Lehrer tags zuvor beim Klettern am Feldberg abgestürzt und tödlich verunglückt ist.
Und wir erfuhren - auf Umwegen - auch, was er am Schluss noch gesagt haben soll. Seine letzten Worte, die machten an diesem Tag die Runde durch die Schule und waren das Gesprächsthema unter uns Schülern während der Pausen und selbst während des Unterrichts:
"Kommt gut runter!", soll er der Gruppe, mit der er unterwegs war, noch zugerufen haben.
"Kommt gut runter!", soll er gerufen haben, als er selbst schon im Fallen war.
Und das soll das Letzte gewesen sein, was er gesagt hat.
Dieser Satz hat mich nie mehr richtig losgelassen - obwohl ich erst viel später, sehr viel später begonnen habe zu begreifen, was mich da jetzt tatsächlich so gepackt hatte. Hier war ein Mensch, den ich kennengelernt hatte, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand, keiner, der vergeistigt durchs Leben geschwebt wäre, hier ist jemand wirklich in den Fußspuren gegangen, die dieser Jesus von Nazareth hinterlassen hatte. Hier hat jemand selbst ganz am Schluss nicht an sich selbst, sondern nur an die anderen gedacht.
Der Tod dieses jungen Pfarrers hat mir später sehr geholfen, ein klein wenig zu verstehen, was für eine Bedeutung jene kleine Szene aus diesem großen Geschehen der Passion und der Kreuzigung eigentlich hat. Er hat mir sehr geholfen zu verstehen, was das bedeutet, wenn Jesus - ganz am Ende, bereits am Kreuz - nach all dem, was er selbst jetzt durchgemacht hatte - den eigenen Tod vor Augen -, wenn Jesus jetzt auf die Menschen schaut, die bei ihm waren.
Er blickt da auf Maria und auf den Johannes. Und seine einzige Sorge war offenbar, dass sich jetzt jemand um seine Mutter kümmert. Er sagt zu Johannes, dass sie jetzt seine Mutter sei und dass er sich ihrer annehmen soll. Und er sagt zu ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, weil sich Johannes jetzt schon um sie kümmern werde.
Was ist das für ein Mensch, der am Ende nur an die anderen denkt? Was ist das für ein Gott, der von sich sagen kann, dass er sein Leben hingibt, nicht weil er in die Enge getrieben wurde, nicht weil er nicht anders könnte, sondern einzig und allein, weil er uns liebt. Was für ein Gott, der das für uns tut.
Und was für ein Beispiel hat er uns damit gegeben.
"Kommt gut runter!", hat mein Lehrer damals denen, die bei ihm waren, voll Sorge zugerufen, als er selbst schon im Fallen war.
Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er hat mich damals mehr gelehrt, als in all seinen Unterrichtsstunden. Damals hat er mir beigebracht, was Jesus Christus nachzufolgen, wirklich bedeutet.
(gehalten am 2. April 2021 in St. Bartholomäus, Ettenheim -
Überarbeitung einer Predigt vom 24. März 1989,
gehalten im St. Stephans-Münster, Breisach)