Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


Fest der Taufe des Herrn - Lesejahr A-C (Apg 10,34-38)

In jenen Tagen begann Petrus zu reden und sagte: Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist. Er hat das Wort den Israeliten gesandt, indem er den Frieden verkündete durch Jesus Christus; dieser ist der Herr aller. Ihr wisst, was im ganzen Land der Juden geschehen ist, angefangen in Galiläa, nach der Taufe, die Johannes verkündet hat: wie Gott Jesus von Nazaret gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und mit Kraft, wie dieser umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm. (Apg 10,34-38)

Es war bei meinem zweiten Besuch in Dessau, und zwar im Jahr nach dem Fall der Mauer. Unsere Studentengemeinde in Mannheim hatte eine Partnerschaft, die von einem DDR-Arbeitskreis getragen wurde. Und bei diesem Treffen erzählten die Dessauer Jugendlichen einen Witz.

"Was ist real existierender Sozialismus?" lautete die Eingangsfrage. "Real existierender Sozialismus ist: vierzig Jahre lang dem roten Stern hinterher zu laufen und dann zu merken, dass es lediglich die Rücklichter vom Müllauto gewesen waren."

Liebe Schwestern und Brüder,

ich konnte damals über diesen Witz nicht recht lachen. Und ich hätte es noch weniger gekonnt, wenn ihn jemand aus unserer Gruppe erzählt hätte. Mit diesen Worten schwang nämlich so viel Sarkasmus und noch viel mehr Enttäuschung mit, dass mir das Lachen im Hals stecken blieb.

Das ging aber nur mir so. Für die Jugendlichen aus Dessau scheint es damals eine Form gewesen zu sein, mit ihrer Enttäuschung umzugehen - mit all den verlorenen Hoffnungen, die es neben der Freude über den Umbruch natürlich auch gab, und auch mit all den Lügen, die man ihnen über Jahre hinweg erzählt hatte.

Und dabei waren sie nicht einmal am schlimmsten dran. Im kirchlichen Umfeld aufgewachsen waren sie nie so stark mit dem Staat und den Parteistrukturen verbunden, dass sie sich voll damit identifiziert hätten.

Wie aber musste es damals den andern ergangen sein, denen, die ihre Zukunft voll auf diesen Staat gesetzt hatten, die daran geglaubt hatten, dass es richtig war und dass es kein bisschen anders sein sollte als so, wie sie es über Jahre und Jahrzehnte gelernt hatten; so, wie es ihnen beigebracht worden war und wie diese Menschen es ja auch über weite Strecken hinweg schätzen gelernt hatten.

Das musste weh getan haben, unendlich weh. Nach Jahren - vielleicht erst nach Jahrzehnten - zu entdecken, dass man sich geirrt hatte, so etwas tut weh.

Irrtum tut immer weh - dann, wenn man ihn einsieht.

Und weil das so ist, möchten viele Menschen Irrtümer am liebsten gar nicht an sich rankommen lassen - ja nicht entdecken, dass man etwas falsch gemacht hat.

"Lass mir meinen Glauben!" heißt es dann. Oder: "Ich will jetzt gar nichts mehr hören!"

Ja nicht darüber nachdenken, ja nicht Gefahr laufen, entdecken zu müssen, dass man Dinge über Jahre hinweg falsch gesehen hat. Und manche werden dann geradezu fanatisch, verbohrt und - vor allem - unzugänglich für alle Argumente.

"Jetzt begreif ich...," sagt Petrus in der heutigen Lesung. Ihm sind da die Augen aufgegangen. Jahrelang hat er es falsch gesehen. Er hatte gedacht, dass Heiden erst Juden werden müssten, um getauft werden zu können. Er war davon überzeugt, dass das Heil einzig und allein den Juden verheißen war. Jahrzehntelang hatte er das voller Überzeugung geglaubt und vertreten.

Er, der Fels der Kirche, eine der Säulen der frühen Christenheit, er, zu dem die anderen aufgeblickt haben, er hatte sich geirrt. Und er musste sich dies nun eingestehen.

Das tut weh. Das tut unendlich weh.

Es aber zu können, so etwas einsehen zu können, zeugt von ungeheurer Größe - von menschlicher Größe. Es verlangt nämlich von jemandem, dass er sich hinterfragen lässt und dass er Fragen auch zulässt.

Nur dann aber ist man wirklich in der Lage, das Steuer auch einmal herumreißen zu können, in einer Sackgasse umzukehren, sich neu zu orientieren und seinem Ziel wirklich näher zu kommen.

Gott verlangt solche Größe auch von uns.

Es wird jedem und jeder von uns schon so gegangen sein, dass Dinge, die bislang glasklar waren, plötzlich ins Rutschen kamen und sich in völlig neuem Licht präsentierten. Das passiert immer wieder: im Alltag, in unserer Frömmigkeit, in Wissenschaft, Politik und Theologie.

Erinnern Sie sich noch daran? Manche von Ihnen werden die Zeit noch deutlich vor Augen haben, als man voller Überzeugung davon ausging, dass Protestanten die ewige Seligkeit wohl kaum erlangen werden, dass man eine evangelische Kirche nicht einmal betreten dürfe.

Und ich selbst habe noch Bibelausgaben gesehen, in denen oben auf der Seite die Jahreszahl stand, zu der das entsprechende Ereignis stattgefunden habe. Die Schöpfung wäre demnach - ich glaube - im Jahre 3848 vor Christus gewesen.

Ich denke, jeder von Ihnen hat es schon am eigenen Leib erlebt. Da ist man von Dingen überzeugt, da ist einem eine Praxis lieb und teuer geworden, und dann kommen welche und sagen, dass man es so unter keinen Umständen machen könne.

Nicht alles kann man da wirklich als neumodisches Zeug abtun. Nicht alles ist einfach modisches Geschwätz. Manches ist tatsächlich ganz einfach richtiger, der Wahrheit viel näher als das, was man bisher angenommen hatte.

Geht mir ja selbst schon so, dass ich mich, wenn ich das ein oder andere aus meiner Vergangenheit so anschaue, dass ich mich selbst dann fragen muss, ob ich diesen Blödsinn wirklich einmal gesagt habe.

Zuerst einmal tut das ganz einfach weh. Wenn man feststellen muss, dass man in seiner Einschätzung, seiner Überzeugung, seinem Glauben einem Irrtum aufgesessen ist, dann tut das weh.

Aber es heißt auch, dass man Dinge dann von einer anderen Warte ansehen, sich von solchen Irrtümern frei machen kann und der Wahrheit, Gott und seinem Willen, näher kommt.

"Jetzt begreife ich...", sagt nicht nur Petrus. Dem Paulus fiel es wie Schuppen von den Augen, als er vor Damaskus einsehen musste, dass es falsch war, Christen zu verfolgen.

Wie schmerzlich hatte er einsehen müssen, dass er voller Überzeugung und aus innerstem Antrieb heraus, etwas völlig Falsches getan hatte. Jeder und jede von uns ist immer wieder darauf angewiesen, sich nach solchen Irrtümern zu hinterfragen. Jeder und jede von uns, ist darauf verwiesen, sich tieferen Einsichten immer wieder aufs Neue zu öffnen. Wer es nicht tut, bleibt in solchen Irrtümern gefangen.

Hätte Paulus nicht tiefer einzusehen gelernt, er hätte wahrscheinlich bis zum Ende Christen verfolgt.

Hätte Petrus nicht begriffen und dieses Begreifen nicht zugelassen, er wäre wohl kaum über Palästina hinausgekommen, er wäre wohl nie nach Rom aufgebrochen und es wäre schwerlich in Bruchsal eine Kirche nach ihm benannt worden.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 8./9. Januar 2005 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)