Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
29. Juni - Hochfest Peter und Paul
In jenen Tagen gingen Petrus und Johannes um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf. Da wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um Almosen betteln. Als er nun Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen. Petrus und Johannes blickten ihn an, und Petrus sagte: Sieh uns an! Da wandte er sich ihnen zu und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen. Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher! Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke; er sprang auf, konnte stehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Alle Leute sahen ihn umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn als den, der gewöhnlich an der Schönen Pforte des Tempels saß und bettelte. Und sie waren voll Verwunderung und Staunen über das, was mit ihm geschehen war. (Apg 3,1-10)
Wenn ich Ihnen jetzt zwei Stichworte nenne - nämlich "Casablanca" und "Humphrey Bogart" -, dann gehe ich jede Wette ein, dass der überwiegenden Mehrheit von Ihnen genau ein Satz einfallen wird: "Schau mir in die Augen Kleines!" nämlich. Das ist schließlich einer der berühmtesten Sätze der Filmgeschichte überhaupt. Und selbst diejenigen, die den Film noch nie gesehen haben, werden den Satz kennen.
Wenn ich Sie jetzt aber fragen würde, wie oft dieser Satz im Film Casablanca denn genau vorkommt, dann werden wahrscheinlich die meisten völlig überrascht sein. Er kommt nämlich kein einziges Mal darin vor. Der Satz heißt in Wirklichkeit nämlich nicht "Schau mir in die Augen, Kleines!" sondern "Ich seh' dir in die Augen, Kleines!" und so kommt er im Film denn auch genau vier Mal vor.
Liebe Schwestern und Brüder,
jetzt sagen Sie nicht: Was redet er denn heute wieder für belangloses Zeug. Als ob "Schau mir in die Augen, Kleines" etwas mit Peter und Paul zu tun, als ob es irgendeine Bedeutung hätte, ob jetzt Humphrey Bogart der Ingrid Bergmann in die Augen geschaut hat oder umgekehrt.
Sagen Sie so etwas jetzt bitte nicht zu schnell! Es macht nämlich schon einen Unterschied.
Und dass das so ist, dass es gar nicht so belanglos ist, ob ich von jemandem angeschaut werde oder ob ich diesen Jemand anschaue, das erfahren Sie in der heutigen Lesung. Damit nämlich, dass da einer einen anderen angeschaut hat - in der Erzählung von der Heilung des Gelähmten an der Schönen Pforte beginnt genau damit ein Wunder!
Sie müssen sich den Text aus der Apostelgeschichte nur einmal genau anschauen: Petrus und Johannes gingen jeden Tag um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf. Und die Angehörigen brachten den Gelähmten jeden Tag an die Pforte des Tempels, damit er durch sein Betteln wenigstens etwas zum Familieneinkommen beitragen würde. Petrus und Johannes gingen jeden Tag an ihm vorüber - vermutlich hatten sie ihn bisher überhaupt nicht bemerkt. Sie gingen an ihm vorbei, so wie man an einem Baum vorbeigeht, der halt am Straßenrand steht, aber sonst eben kaum interessiert. Und vermutlich hatten beide das stereotype: "Eine milde Gabe, bitte", das der Bettler ständig vor sich hinbrabbelte, bislang auch ganz einfach überhört.
An diesem Tag war etwas anders. Und es beginnt damit, dass die Apostelgeschichte vermerkt: Petrus und Johannes blickten ihn an.
"Ich seh' dir in die Augen!"
Und damit, dass mich jemand anfängt anzuschauen, damit verändert sich etwas.
Wie viele Frauen klagen darüber, dass ihr Mann sie eigentlich gar nicht mehr anschaut. Und sie bringen mit diesen einfachen Worten eine ganz große Not zum Ausdruck, die von einer eminenten Schieflage in der Beziehung kündet.
Wie viele Menschen leben in unserer Gesellschaft und werden von niemandem beachtet, haben keinen, der sie anschaut, ja erleben sogar, dass man fast peinlich berührt ist, wenn man sie sieht, und dass man ganz schnell wegschaut, wenn man ihnen begegnet.
Wie viele gibt es, die einfach niemand mehr ansieht und die gerade deshalb auch kein Ansehen mehr haben, die ihr Ansehen verloren haben.
Petrus und Johannes blicken ihn an. Und damit wird aus dem Bettler am Straßenrand, an dem man achtlos vorübergeht, ein Mensch.
"Ich seh' dir in die Augen!" - Damit beginnt das Wunder. Denn jetzt erst wagt dieser Gelähmte, selbst aufzuschauen. Jetzt kann Petrus sagen: "Schau uns an!" Und der Mann hebt den Kopf und wagt Petrus und Johannes ins Gesicht zu schauen. Er kann es jetzt. Denn die beiden haben ihn angesehen, haben ihm sein Ansehen, seine Würde, zurückgegeben.
Und er darf nun auch mit Fug und Recht erwarten, dass er von ihnen etwas erhält. Und was er bekommt, das ist weit mehr, als er sich jemals erträumt hat.
"Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!"
Petrus fasst ihn an der Hand und hilft ihm auf die Füße zu kommen. Er ermöglicht ihm, wieder aufrecht zu stehen.
Da steht einer auf, der vorher am Boden lag. Das ist das Wunder von der schönen Pforte. Da steht einer auf, der vorher am Boden lag. Und es begann damit, dass da einer einen anderen angeschaut hat.
Nicht: "schau mir in die Augen, Kleines." Sondern: "Ich seh' dir in die Augen." Ich schau dich an, denn du bist für mich wichtig, in dir erkenne ich den Bruder, die Schwester, den Menschen, in dem mir Jesus begegnet.
Wenn wir das vom heutigen Tag mitnehmen, wenn wir selbst anfangen, den Menschen, die uns begegnen, in die Augen zu schauen, wer weiß, was dann alles heute noch passiert.
Fangen Sie gleich damit an. Schauen Sie Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin wieder einmal ganz fest in die Augen und entdecken Sie ganz neu den Menschen, den Sie lieben.
Schauen Sie andere, Menschen, die Sie gar nicht kennen, einfach ganz bewusst an - Menschen, die Sie sonst vielleicht gar nicht bemerken würden. Schenken Sie anderen das Ansehen, das ihnen gebührt.
Wer weiß, vielleicht wagen Menschen dann wieder aufrecht zu stehen, die gerade eben noch am Boden zerstört waren, die sich unbeachtet und vernachlässigt vorgekommen sind, die selbst schon nicht mehr wagten, einem Anderen ins Gesicht zu schauen, weil sie das eigene verloren zu haben glaubten.
"Ich seh' dir in die Augen!"
Machen Sie's ruhig. Vielleicht ereignet sich dann auch heute manches kleine und da und dort vielleicht sogar manches große Wunder.
Amen.
(gehalten am 29./30. Juni 2002 in der Peters- und Pauluskirche Bruchsal)