Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
12. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 10,26-33)
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Aposteln: Fürchtet euch nicht vor den Menschen! Denn nicht ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann. Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. Wer sich nun vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen. (Mt 10,26-33)
"Deine Frau, das unbekannte Wesen..."
Liebe Schwestern und Brüder,
zu diesem Titel muss ich vermutlich den wenigsten von Ihnen viel erklären.
Ich war damals zwar erst neun Jahre alt, als Oswald Kolle mit seinen Filmen in der ganzen Republik für Furore sorgte, aber selbst ich habe schon irgendwie mitbekommen, dass da etwas Unerhörtes geschehen sein musste. Selbst mein Großvater - und der war damals schon nicht mehr der Jüngste - sprach davon.
Die ganze Aufregung, die damals herrschte, ist heute natürlich nur noch schwer nachvollziehbar. Gemessen an dem, was man mittlerweile allabendlich ins Haus geliefert bekommt, sind die Streifen von damals vergleichsweise harmlos. Und es gäbe wahrscheinlich auch kaum einen Grund ,diese Filme heute hier zu erwähnen, wenn nicht gerade dieser Titel etwas Faszinierendes hätte: "Das unbekannte Wesen."
Wieso soll die Frau oder auch der Mann ein unbekanntes Wesen sein? Eigentlich müsste man doch davon ausgehen, dass der Ehepartner der Mensch ist, den man am besten kennt. Diejenigen, mit denen man den ganzen Tag zusammen ist, die kennt man doch, da weiß man um jede Macke, jede Laune und jede noch so kleine Eigenart. Und trotzdem ein unbekanntes Wesen?
Ich brauche jetzt keine große Umfrage zu machen, ich brauche mich nur zu fragen, wer von Ihnen sich von seinem Partner immer verstanden fühlt, und dann brauche ich nur in Ihre Gesichter zu sehen...
Wenn er eines richtig erkannt hat, dieser Oswald Kolle, dann vermutlich genau das: Von wegen, "man kennt sich".
Man glaubt sich zu kennen, und so geht man dann auch miteinander um. Weil man meint, genau zu wissen, was der andere denkt, deshalb hört man oft schon gar nicht mehr zu, deshalb lässt man den anderen schon gar nicht mehr ausreden. Man kennt sich ja! Man hat es ja schon so oft gehört, was dem anderen nicht passt, worüber er wieder zu lamentieren hat und was ihn schon wieder drückt. Man kennt sich ja! Es gibt kaum noch Überraschungen, man erwartet keine mehr, und man lässt auch gar keine zu.
Und das Endergebnis ist, dass man immer mehr nebeneinander her lebt. Damit, dass man den anderen zu kennen glaubt, damit haben schon viele Beziehungen angefangen, langsam zu zerbrechen.
Und dabei kennt man häufig wohl niemanden so wenig wie die Menschen, die um einen herum sind. Versteht man den Partner denn wirklich - so, dass sich der andere auch tatsächlich verstanden fühlt? Und die Kinder? Von den Eltern, die ich bisher kennengelernt habe, kann ich die, die ihre Kinder wirklich immer verstehen, an einer Hand abzählen. Und dann sich selbst! Wie oft verstehe ich mich selbst überhaupt nicht, weiß weder was ich wirklich will, noch was ich eigentlich nicht will. Vielleicht versteht man sich selbst am Ende sogar am allerwenigsten.
Ach wenn es einen gäbe, der mich doch wirklich verstehen würde. Das ist einer der ältesten Wünsche der Menschheitsgeschichte überhaupt. Wenn mich doch einer wirklich verstehen würde. Einen Menschen, der mich wirklich versteht, davon träumen gewiss nicht nur die Ehefrauen!
Leider bleibt es meist nur ein Traum. Die wenigsten von uns werden wirklich solch einen Menschen finden. Und vielleicht gibt es tatsächlich auch keinen Menschen, der diesem Traum völlig gerecht werden könnte. Einen Menschen gibt es da wohl nicht.
Aber einen gibt es, einen, der mich tatsächlich versteht - das zumindest verspricht uns. das heutige Evangelium. Denn genau davon handelt es: Es gibt einen, der weiß was mir fehlt, der mich kennt und mich völlig durchschaut. Und er kennt mich letztlich sogar besser als ich mich selbst.
Es gibt vielleicht kein besseres Bild dafür, als das, das wir eben im Evangelium gehört haben: das Bild von den Haaren auf dem Kopf, von denen jedes einzelne gezählt ist. Gott kennt mich durch und durch von den Zehen bis in die Haarspitzen. Und er kennt mich sogar besser als ich mich selbst. Und weil er mich wirklich kennt, deshalb versteht er mich auch.
All meine Haare auf meinem Kopf hat er gezählt. Das ist die frohe Botschaft des heutigen Evangeliums.
Gut, was die Haare auf meinem Kopf angeht, da muss sich Gott von Jahr zu Jahr natürlich immer weniger anstrengen. Die sind jedes Jahr ein wenig leichter zu zählen, denn so schrecklich viele sind es ja nicht mehr. Aber es sind immer noch weit mehr, als ich jemals erfassen könnte. Und ein anderer Mensch kann es schon gar nicht.
Gott kann es. Und er tut es. Und dafür kann ich nur dankbar sein.
Amen.
(gehalten am 23. Juni 2002 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)