Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
1. Adventssonntag - Lesejahr A-C
Jetzt dauert es nicht mehr lange! Nur noch wenige Tage, dann öffnet sich das erste Türchen am Adventskalender. Die Spannung bei den Kindern ist schon riesig, denn vielerorts werden sie schon hängen, jene Kalender mit den 24 Türchen, die eins nach dem anderen geöffnet werden möchten. Und es ist jedes Mal aufs Neue ein Ereignis, wenn solch ein Türchen sein Geheimnis preisgibt, wenn man entdecken darf, welches Bild oder welche Süßigkeit sich dahinter verbirgt.
Liebe Schwestern und Brüder,
es ist eine spannende Sache, eine Tür zu öffnen - und das nicht nur, was den Adventskalender angeht. Wie oft schon bin ich vor einer Tür gestanden und habe mich gefragt, was mich dahinter wohl erwarten wird.
Bei fast jedem Geburtstagsbesuch etwa - dann nämlich, wenn ich einen Namen in der Hand halte und sonst nicht weiß, was mich bei dieser Adresse wohl erwartet. Wird hinter dieser Tür schon gefeiert? Ist vom Fest gar überhaupt nichts zu bemerken? Geht es ihr gut, der Jubilarin oder ist es gar krank, das Geburtstagskind? Es gab schon wunderschöne Erlebnisse hinter solch neu geöffneten Türen.
Und manchmal stand ich auch schon wie ein begossener Pudel da, als ich da etwa meinen Brief und das Büchlein mit den schönen, groß geschriebenen Texten und den vielen Bildern einer Frau überreichen wollte, von der ich viel zu spät gemerkt habe, dass sie mittlerweile erblindet war.
Man weiß bei keiner Tür, die man zum ersten Male öffnet, was einen dahinter tatsächlich erwartet. Und manchmal weiß man es nicht einmal bei Türen, deren Klinke man immer wieder in die Hand nimmt.
Es waren beispielsweise immer dieselben Türen, vor denen ich Woche für Woche gestanden habe, damals als Vikar, als mein Chef und ich regelmäßig ins Krankenhaus gingen und dort stationsweise - einfach der Reihe nach - die Kranken besucht haben. Es waren immer dieselben Türen, die ich da öffnete, aber jedes Mal ein eigenartiges, manchmal auch beklemmendes Gefühl dabei. Jedes Mal diese Frage: Was verbirgt sich diese Woche hinter dieser Tür? Sind die beiden Männer noch hier? Ist einer bereits entlassen? Ist wieder jemand verstorben oder quält sich jene Frau auch diese Woche mit der Ungewissheit, die sie zu Boden drückt?
Man kann jede Woche dieselben Türen öffnen und trotzdem jedes Mal vor ganz neuen, ganz ungeahnten und wieder überraschenden Situationen stehen, die ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringen.
Das wird Ihnen nicht anders gehen, wenn Sie erneut - zum wiederholten Male - die Türklinke zu ihrem eigenen Innern in die Hand nehmen. Denn auch das, was in uns drin steckt, das, was uns bewegt, wir selbst, wir stecken wie in einem geschlossenen Raum, verborgen hinter einer Tür, einer Tür, die man immer wieder aufs Neue öffnen muss, um wirklich zu sich selbst vorzudringen.
Sagen Sie nicht, sie hätten es schon so oft Getan! Es ist jedes Mal eine neue Überraschung. Wir treffen uns selbst jedes Mal aufs Neue in immer anderen Situationen an, im Grunde jeden Tag.
Es ist nicht immer leicht, sich selbst zu begegnen. Wie oft hat man absolut kein Verlangen danach. Und fast jedes Mal stellt sich dieses beklemmende Gefühl ein, jedes Mal, wenn man die Klinke in die Hand nimmt. Es wird immer wieder aufs Neue Überwindung kosten, diese Tür zu sich selbst aufzustoßen und in sich hineinzublicken, mir selbst zu begegnen und mich zu fragen, wer ich bin und wie ich bin und warum ich so bin. Wie viele Enttäuschungen gibt es da, wie oft stehe ich vor mir selbst wie ein begossener Pudel. Aber wie oft gibt es auch überraschende Erlebnisse, wunderschöne Augenblicke und großartige Begegnungen - mit mir selbst!
Die Adventszeit ist die Zeit, das neu zu entdecken, eine Zeit zum Türen-Öffnen, nicht nur die Türchen am Adventskalender, nicht nur Türen zu anderen Menschen, zu nahen oder auch fernen. Jetzt ist die Zeit, die Türen zu mir selbst zu öffnen.
Und es ist Zeit, durch solche Türen hindurchzugehen, andern - und auch mir selbst - wieder aufs Neue zu begegnen, andere - und mich selbst - neu kennen, neu verstehen und vielleicht sogar neu lieben zu lernen.
Amen.
(gehalten am 27./28. November 2009 in der Peters- und Antoniuskirche, Bruchsal)