Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Predigt am Karfreitag
Liebe Schwestern und Brüder,
Es gibt Tage, die sind eigentlich viel zu ernst, als dass man an ihnen Märchen und Geschichten erzählen sollte, und der Karfreitag ist mit Sicherheit einer dieser Tage. Aber er gehört für mich auch zu den Tagen, an denen es gar nicht so leicht ist, überhaupt etwas zu sagen. Angesichts des Todes Jesu verschlägt es nämlich auch mir die Sprache. Vielleicht werden Sie verstehen, warum ich gerade deshalb, das - was ich heute sagen möchte - mit den Worten einer Geschichte sage! Und diese Geschichte beginnt mit - wie sollte es anders sein - sie beginnt mit den Worten:
Es war einmal...
Es war einmal ein Mann, irgendwo auf dieser Welt, dort, wo die Sonne deutliche Schatten wirft. Und dieser Mann hatte deshalb auch einen ganz ausgeprägten Schatten - so wie die meisten Menschen um ihn herum. Überall, wo er stand, zeichnete sich auf dem Boden ganz deutlich sein Schatten ab. Nur unterschied sich dieser Mann auf eine Art von all den anderen Menschen. Im Unterschied zu vielen anderen bemerkte er nämlich, dass er diesen Schatten hatte! Und er bemerkte seinen Schatten nicht nur, er begann sich auch ganz kräftig über ihn zu ärgern; er spürte nämlich: Dieses Schattenbild gehörte zwar zu ihm, aber es war wie ein dunkler Fleck auf seiner Person. Und so überlegte er mit aller Kraft, wie er seinen Schatten loswerden könnte.
Da machte er eine ganz großartige Entdeckung. Er merkte nämlich, immer dann, wenn er genau so stand, dass ihm die Sonne ins Gesicht schien, dann war der Schatten verschwunden. Und so beschloss er, eben nur noch so herumzulaufen, dass er die Sonne im Gesicht hatte. Schon begann er sich zu freuen und meinte, seinen Schatten nun endgültig losgeworden zu sein, bis die anderen anfingen zu lachen und ihm zuriefen: "Du Narr, du bildest Dir ein, keinen Schatten mehr zu haben? Dabei ziehst Du ihn die ganze Zeit hinter Dir her, ohne ihn zu sehen!"
Da war der Mann furchtbar enttäuscht. Und verärgert über seine eigene Dummheit ging er in die Stadt, denn er hatte gehört, dass man dort seinen Schatten sehr leicht vergessen könnte! Aber auf den geteerten Straßen der Stadt sah er ihn nur umso deutlicher. Und auch als er versuchte, seinen Schatten mit weißer Farbe zu übertünchen, kamen die Konturen nur umso kräftiger heraus.
Völlig entmutigt ging er weg, ging weit hinaus aufs Feld und setzte sich unter einen Baum. Es war ein großer und mächtiger Baum, und die Äste mit den vielen Blättern reichten weit über das Feld. Da wurde unser Mann plötzlich richtig froh, denn es war schön, unter dem Baum zu sitzen. Ja, und er wurde sogar richtig glücklich, als er auf einmal bemerkte, dass sein Schatten ja gar nicht mehr da war. Egal wohin er auch sah, egal wie herum er sich auch drehte, nirgendwo war mehr etwas von seinem Schatten zu sehen. Dieser Baum hatte den Schatten unseres Mannes vollkommen weggenommen. Das dichte Laubwerk verdeckte die Sonnenstrahlen und unser Mann warf mit einem Mal keinen Schatten mehr. Unter diesem Baum war jenem Mann gelungen, was er überall sonst vergebens versucht hatte, es war ihm gelungen, seinen Schatten loszuwerden.
Liebe Schwestern und Brüder,
Sie kennen den Baum, unter dem man seinen Schatten loswird. Sie haben ihn mit Sicherheit schon einmal gesehen.
Mir ist er vor einigen Jahren auf einem Misereor-Hungertuch aufgefallen: dieser Baum mit seinen großen Früchten und dem dichten Laub, dieser Baum in Kreuzesform, dieses Holz, an das man unseren Herrn Jesus Christus genagelt hatte.
Sein Kreuz ist für uns zu so einem Baum geworden, zu einem Baum, der die Schatten unserer Schuld wegnimmt. Ohne ihn würden wir diese Schatten unser ganzes Leben lang mit uns herumschleppen müssen, ohne sein Kreuz, ohne diesen Baum, würden sie ein ganzes Leben lang an uns zerren - und vermutlich sogar noch darüber hinaus.
Im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus aber hat unsere Schuld ein für alle Mal Vergebung gefunden. Sein Kreuz ist dieser Baum, der uns von den Schatten unserer Schuld befreit. Das ist die Botschaft des heutigen Tages, das ist die frohe Botschaft dieses Karfreitages.
Amen.
(gehalten am 17. April 1987 im St. Stephans-Münster, Breisach)