Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


Neujahr

 

Liebe Schwestern und Brüder,

an dieser Stelle stand in den letzten Jahren immer so etwas wie ein Ausblick auf das, was auf uns zukommt.

Dieses Jahr fällt mir ein solcher Ausblick recht schwer. Wenn man ein Ziel in den Blick nehmen möchte, muss man ja zuerst wissen, wo man denn augenblicklich überhaupt ist - und die Standortbestimmung, die macht mir momentan etwas Mühe.

Nicht persönlich - persönlich war das Jahr 2010 für mich ein großartiges Jahr. Ich hatte so viele schöne Erlebnisse, bis zum Gefühl, dass Weihnachten und Ostern zusammenfallen würden. Persönlich kann ich mich über das Jahr 2010 absolut nicht beklagen.

Wenn es Enttäuschungen und Schmerzliches gab, dann war das in diesem Jahr vorab beruflich bedingt.

Das was als Spitze des Eisberges - und es war wohlgemerkt nur die Spitze des Eisberges - im Jahr 2010 ans Tageslicht gefördert wurde, hat mich nicht nur erschüttert.

Missbrauchsskandal nennt man es einfach. Für mich war das mehr. Für mich ist hier etwas kaputtgegangen. Vielleicht ist es der letzte Rest von Illusion, der mir nun endgültig geraubt worden ist.

Ich habe es deshalb so existentiell erlebt, weil ich - nicht nur - eine der Missbrauchsopfer persönlich kenne und zumindest annähernd weiß, was sie durchgemacht hat. Und wie ich mich dem vermeintlichen Täter gegenüber verhalten soll, der immer noch im Dienst ist, weil ja alles verjährt und ihm letztlich juristisch nichts nachzuweisen ist - ich weiß es nicht.

Ich habe aber begriffen, dass nicht nur die Taten unser Problem sind. Wie damit umgegangen worden ist, ist vielleicht noch der weitaus größere Skandal.

Sie erinnern sich an den Rücktritt eines Bischofs, der von nichts mehr gewusst haben wollte, Sie haben davon gelesen, wie im Münchner Generalvikariat die Akten penibel durchgegangen wurden, nur um festzustellen, was alles vernichtet, vertuscht oder gar nicht erst festgehalten wurde. Und was dabei alles deutlich geworden ist, wirft kein gutes Licht auf den damaligen Bischof Joseph Ratzinger.

In anderen Diözesen ist solch eine Untersuchung gar nicht notwendig, denn diejenigen, die für die Wahrung des schönen Scheins zuständig waren, haben die Fäden noch heute in der Hand und wissen sehr genau, was letztlich niemand so genau wissen soll.

Von wegen, die Krise ist überwunden. Von wegen, die Kirche ist gestärkt aus ihr hervorgegangen. Keine Spur davon, dass die Kirche ihrem moralischen Anspruch gerecht geworden wäre. Wir haben hier unendlich viel von unserer Autorität verspielt - und das auf Jahre hinaus.

Anstelle von Auftritten mit Prunk und Gloria, anstelle von goldenen Mitren, von Größenwahn mit riesigen Weihrauchfässern, sollten wir uns auf sehr schlichte Gewänder, wenn nicht gar auf Sack und Asche beschränken. Es gibt keinerlei Grund für eine triumphierende, noch eine streitende Kirche. Kirche der Sünder zu sein, das allein steht uns gut zu Gesicht.

Von daher ist der Blick in die Zukunft alles andere als leicht. Zumal es ja nicht nur solche Nachrichten sind, die diesen Blick verstellen. Seit ich denken kann, habe ich keine Zeit erlebt, in der es in dieser Kirche einen solchen Reformstau gab, wie wir das momentan erfahren müssen. Und wenn es wenigstens Stillstand wäre, den es zu beklagen gibt. An so vielen Stellen drehen sich die Räder doch geradezu rückwärts.

Vom Aufbruch und Schwung, den ich in meiner Kindheit noch ein wenig erleben durfte, ist schon lange nichts mehr zu spüren. Und was groß als "Weiterentwicklung" - "geographische Weiterentwicklung der Seelsorgeeinheiten" - was groß als "Weiterentwicklung" angekündigt wird, ist in Wahrheit doch nichts anderes als ein Rückzugsgefecht nach dem anderen.

Dieser "Abschwung", ist schon längst bei uns angekommen - der ist wirklich ganz unten angekommen. Davon kann nicht nur die Haushaltskommission unseres Pfarrgemeinderates ein langes Lied singen. Es sind nicht nur die finanziellen Mittel, die uns in den nächsten Jahren endgültig wegbrechen. Die Substanz unter unseren Füßen ist sehr dünn geworden, so dünn, dass sie nicht mehr ausreichen wird, um die Gemeinden wirklich zu tragen.

Ja natürlich, darin stecken auch Chancen. Wer sagt denn, dass es genau so weitergehen muss, wie das in der Vergangenheit gewesen ist. Was einmal richtig war, muss ja nicht für alle Ewigkeiten genauso weiter richtig sein. Aber um die Weichen neu zu stellen, um wirklich zu neuen Ufern aufzubrechen, um neu durchstarten zu können, befreit von altem Ballast, mit neuem Elan und auch entsprechender Begeisterung, dazu müsste man sich ja zumindest auf das Ziel einigen. Zu einer solchen Einigung gehört aber, dass man sich im Vorfeld verständigt, austauscht, Dinge durchdiskutiert und vereinbart. Zu solch einem Prozess gehört, dass man in eine inhaltliche Auseinandersetzung eintritt, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Das aber war die zweite große Enttäuschung in den zurückliegenden Monaten. An einer wirklich inhaltlichen Auseinandersetzung sind die wenigsten tatsächlich interessiert. Sobald es ans Eingemachte geht, sind es kaum mehr als zwei, drei Handvoll Leute, die einen solchen Weg mitzugehen bereit sind.

Und selbst da, wo einige von Ihnen sich immer wieder mühen, in eine breitere Diskussion einzusteigen, gehen die Rollläden sehr schnell runter, heißt es dann, "Mir wird das alles viel zu viel", "Ich will all diese E-Mails gar nicht lesen", "Wen das wirklich interessiert, der soll das in Räumen besprechen, in denen es niemanden stört!"

Den neuen Schwung, den unsere Gesellschaft momentan erlebt, dass Menschen für ihre Überzeugung auf die Straße gehen, sich für ihre Anliegen einsetzen und nicht klein beigeben, wenn sie auf Widerstand stoßen, dieser Aufbruch scheint in unserer Kirche noch lange nicht angekommen zu sein, der scheint unseren Gemeinden noch völlig fremd zu sein.

Umso dankbarer bin ich denen, die in den vergangenen Monaten den Weg mitgegangen sind, die immer wieder neue Anstöße geben und unserer Kirche den letzten Rest an Glaubwürdigkeit bewahren. Wenn es Grund zur Hoffnung gibt, dass tatsächlich Neues wachsen kann, dann sind es allein solche Menschen, die trotz aller Enttäuschung nicht nachlassen, ihren Glauben überzeugend und konsequent leben zu wollen.

Wohin die Reise geht, ich kann es nicht sagen. Selten sind wir mit leereren Händen vor größeren Herausforderungen gestanden als in der gegenwärtigen Zeit. Selten waren wir mehr darauf angewiesen, dass uns dieser Gott, dem wir trotz allem glauben und vertrauen, die Richtung neu zeigt und den Weg nicht nur weist, sondern führt, uns begleitet und dabei wirklich an der Hand nimmt.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 1. Januar 2011 in der Pauluskirche, Bruchsal)