Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Ansprache zum Volkstrauertag
Ich sehe da schon beinahe etwas Schicksalhaftes dahinter. Als ich vor 10 Jahren meine Vikarsstelle in Breisach angetreten habe, da kam ich an einen Ort, der während des Zweiten Weltkrieges zu 85 % zerstört worden war. Als Studentenpfarrer in Mannheim zog ich dann in eine Stadt, deren Kriegszerstörungen mit genau der gleichen Prozentzahl angegeben wurden. Jetzt wohne ich seit wenigen Monaten in Bruchsal und wiederum sehe ich Fotos und höre von Zerstörungen, die nahezu in der gleichen Größenordnung liegen.
Verehrte Damen und Herren,
man könnte sich beinahe daran gewöhnen!
Solche Zahlen, solche Prozentangaben, die lassen einen langsam abstumpfen, die bergen die Gefahr in sich, dass man sie Achsel-zuckend zur Kenntnis nimmt, und dann zur Tagesordnung übergeht. Zahlen sind kalt, ungeheuer objektiv, furchtbar sachlich, und daher völlig blutleer.
An Zahlen kann man sich gewöhnen, vor allem als junger Mensch, als Angehöriger einer Generation, die dies alles nur von Bildern und Erzählungen her kennt, die nur die Berichte gelesen und einiges darüber gelernt hat. Vor allem als junger Mensch steht man in der Gefahr, solche Zahlen sehr bald als das zu nehmen, was sie nun einmal sind: nackte und anteilslose Mengenangaben. Ein Maß dafür, dass es halt überall irgendwie schlimm gewesen sein muss.
Was soll ich mit Prozentpunkten von Zerstörung anfangen?
Ich habe das große Glück, und ich betrachte es tatsächlich als solches, nie sehr lange bei Zahlen und Prozentpunkten verweilen zu dürfen. Ich komme schon von Berufs wegen mit Menschen zusammen, Menschen, die mir erzählen, davon erzählen, was sich hinter den Zahlen verbirgt, was es bedeutet, ausgebombt zu werden, die Heimat verlassen zu müssen, mit Sack und Pack, den wenigen Habseligkeiten, die einem geblieben sind, in die Ferne ziehen zu müssen, um einen Menschen, den man liebt, im sinnlosen Treiben des Krieges zu bangen, und ihn am Ende dann tatsächlich zu verlieren.
Ich komme immer wieder mit solchen Menschen zusammen. Zahlen können einen kalt lassen, jedes einzelne Schicksal, und möge es im Vergleich zu den großen Ereignissen des Krieges auch noch so klein sein, jedes einzelne Schicksal aber, das plötzlich an einen herangetragen wird, das erschüttert, es erschüttert das gewohnte und im Alltag doch so bewährte Weltbild bis aufs äußerste.
Und das ist gut so! Denn der Alltag, den ich kenne, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die mir so vertraut sind, die stehen auf tönernen Füßen. Das, was für mich so normal ist, die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, sie ist ein höchst sensibles Gebilde, eine Vereinigung von Menschen, die davon lebt, dass sie mit Sorgfalt und Vorsicht, äußerst behutsam behandelt wird.
Das Erleben, wie schnell solch eine Gesellschaft pervertiert werden kann, was passiert, wenn der Ungeist sich der Geister bemächtigt, die Erinnerung an die Schrecken von Diktatur und deren beinahe unausweichlicher Folge, sie haben die Menschen gelehrt, äußerst behutsam mit dem Gut einer Gesellschaft im Frieden, eines Staates im Wohlstand und eines Zusammenlebens in sozialer Sicherheit mit diesem Gut äußerst behutsam umzugehen. Eine Vorsicht und eine Sorgfalt, die von der Erinnerung lebt, die davon lebt, dass man sehr wohl weiß, dass es sehr schnell auch ganz anders sein kann, die davon lebt, dass man sich an dieses schreckliche andere, dass man sich daran erinnert.
Erinnerung ist so etwas, wie das Geheimnis der Erlösung.
Wenn wir heute zusammenkommen, dann leisten wir einen wichtigen Beitrag dafür, dass diese Erinnerung wachgehalten wird, einen Beitrag, der notwenig ist, äußerst notwendig.
Die Menschen, die die Schrecken der Kriege erlebt haben, sie werden nämlich weniger. Die Verantwortung in unserer Gesellschaft ruht immer mehr auf den Schultern derer, die über Wohlstand und Frieden schon gar nicht mehr hinausdenken können, die nie etwas anderes erlebt haben.
Und das ist gefährlich. Denn es ist gefährlich, wenn die Erinnerung und die Vorstellung davon, was Menschen Schreckliches zu leisten in der Lage sind, wenn der Blick dafür, dem Streben nach persönlichem Vorteil weicht. Wenn das Schielen nach Wachstum, nach persönlichem Profit, das Fragen danach, was eine Sache mir denn bringt, wenn all dies, die Prinzipien von Subsidiarität, Solidarität und den Blick auf das Gemeinwohl in den Hintergrund drängen.
Ich habe Angst davor, Angst vor den Anzeichen, die sich bereits heute in unserer Gesellschaft abzeichnen. Auch hier in dieser Stadt, werden die Werte, die unsere Gesellschaft in den letzten 50 Jahren zu dem machten, was sie heute ist, langsam verdrängt, wird der Geist, der die Gesellschaft der Nachkriegsjahre, vor den falschen Schritten bewahrte, vom alleinigen Blick auf Kommerz und Umsatz immer mehr in den Hintergrund gedrängt.
Schon die Begeisterung, die allerorten den verkaufsoffenen Sonntagen etwa entgegengebracht wird, ist für mich ein Zeichen dafür, wie allein ein Pfeiler dieser gesellschaftlichen Kultur immer mehr erstirbt.
Wenn uns die Leiden, die die Menschen vor einem halben Jahrhundert durchgemacht haben, auch nur etwas sagen möchten, dann ganz gewiss, dass wir behutsam und mit äußerster Sorgfalt mit dem Gut einer Gesellschaft des allgemeinen Wohlstands, der sozialen Sicherheit und vor allem des Friedens umzugehen haben.
Das, was wir hier alltäglich erleben, das ist ein Gut, das auf tönernen Füßen steht. Die ältere Generation hat es erlebt. Sie weiß uns davon zu berichten, was es bedeutet, wenn es anders ist. Und die Toten der Bombennächte, die Toten der Konzentrationslager, und die unzähligen Toten auf den Schlachtfeldern der Weltkriege sie mahnen uns, sie mahnen uns, alles erdenkliche dafür zu tun, das sensible Gleichgewicht, das unser friedliches Zusammenleben ermöglicht, unter keinen Umständen zu gefährden.
Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Erinnern wir uns heute ganz bewusst, indem wir der Toten der Kriege gedenken und für sie beten.
Und damit möchte ich hier auch schließen, mit dem Gebet für die Toten der Weltkriege und für unsere Stadt. Und nachdem Sie mich als Pfarrer gebeten haben, hier diese Ansprache zu halten, dann werden Sie auch Verständnis dafür haben, wenn ich Sie zu diesem Gebet einladen. Diejenigen von Ihnen, denen dieses Gebet etwas bedeutet, die lade ich ein mit mir zusammen für unsere Toten nun das "Vater unser", das Gebet Jesu Christi zu sprechen...
(gehalten am 17. November 1996 in der Friedhofshalle, Bruchsal)