Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
anlässlich der 250-Jahrfeier der Grundsteinlegung der Ettenheimer Stadtpfarrkirche
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst einmal möchte ich die Frage beantworten, wie ich zu diesem recht eigenartigen Titel gekommen bin.
Als ich gefragt wurde, ob ich anlässlich des 250jährigen Jubiläums der Grundsteinlegung der Ettenheimer Stadtpfarrkirche einen Vortrag halten wolle, durchschoss mich sofort der Gedanke: "Was soll man denn da jetzt noch sagen?"
Als wir 1982 die 200-Jahrfeier der Weihe dieser Kirche begingen, da war das etwas ganz anderes. Außer ein paar wenigen Schriften gab es kaum Literatur und die meisten Fragen waren weder aufgearbeitet noch irgendwie gelöst.
Damals aber haben Hubert Kewitz und Dieter Weis ungeheuer viel Zeit und Energie zu investieren begonnen und wahrlich jeden Stein umgedreht.
Namentlich Dieter Weis, hat jeden Schnipsel und jede Rechnung, die greifbar war, ausgewertet und jede noch so kleine Veränderung durch die Jahrhunderte hindurch untersucht und dokumentiert.
Wer heute etwas über St. Bartholomäus wissen möchte, der braucht keine Vorträge mehr, um ein rundes Bild von dieser Kirche gezeichnet zu bekommen. Und wer die Ausstattung, die Bilder, Gemälde und Figuren auf sich wirken lassen möchte, der kann sich bequem hinsetzen, einen Kirchenführer nehmen und findet schöne, knappe Beschreibungen über nahezu alle Details, die ihn interessieren.
Was also will man in einem Vortrag über die Stadtpfarrkirche heute noch hören?
Nun, ich kenne nicht die Motivation, mit der Sie heute hier hergekommen sind. Aber ich sage Ihnen gleich, was ich jetzt nicht möchte.
Ich werde Ihnen keine Abfolge von Zahlen auflisten. Die finden Sie anderswo. Ich werde Ihnen auch nichts über Künstler und ihre Biographien berichten. Das ist ausführlich dokumentiert. Und ich werde Ihnen auch nicht diesen Raum hier beschreiben und die einzelnen Figuren und Bilder näherbringen. Das wissen Sie längst oder können es leicht bei jeder Führung und durch jeden Kirchenführer erfahren.
Ich habe mir vielmehr selbst die Frage gestellt, was dieser Bau denn eigentlich zu sagen hat, welche Gedankenanstöße er gibt, Gedankenanstöße im Blick auf Fragen, die sich vielleicht erst dann stellen, wenn man all die anderen Informationen und Zusammenhänge schon einmal gehört hat und anfängt ein wenig hinter die Details zu blicken. Und aus der Fülle all dessen, was sich mir dann als Fragen gleichsam aufdrängt,
habe ich zehn ausgesucht und über die möchte ich heute Abend hier handeln.
Und das beginnt schon mit der Frage, warum wir heute überhaupt hier sein können, warum wir 250 Jahre Grundsteinlegung überhaupt feiern können.
Dem voraus gegangen ist schließlich eine Begebenheit, die es heute so gar nicht mehr gibt: Eine Visitation nämlich.
Toussaint Duvernin.
Gemälde im Musée des Beaux Arts Strasbourg,
Reproduktion: Wolfgang Hoffmann, Ettenheim
Am 6. Mai 1762 kam der Straßburger Weihbischof und Generalvikar Toussaint Duvernin nach Ettenheim, um die Gemeinde zu visitieren. Er war der, der für das Bistum Straßburg und seine Kirchengemeinden damals zuständig gewesen ist. Der Bischof selbst - zu dieser Zeit noch der Onkel des letzten Straßburger Rohan-Kardinals - hatte mit dem Bistum kaum etwas am Hut, er weilte in Paris. Der eigentliche geistliche Oberhirt der Diözese war Weihbischof Duvernin.
Und damals kamen die Oberhirten noch selbst in die Gemeinden, so wie viele von Ihnen das aus Ihrer Jugend ja auch noch kennen, als der Bischof zur Visition kam, um sich ein Bild von der Situation der Gemeinde vor Ort zu machen. Es war nicht immer ein realistisches Bild von Kirche, das die Bischöfe damals gewannen, aber sie bekamen zumindest einen Eindruck davon, wie es vor Ort zuging. Und das war nicht unwichtig.
Ich selbst habe nie mehr einen Bischof auf Visitationsreisen erlebt. Ich kenne es noch, dass die Dekane vorbeikamen und einen Bericht schrieben, der dann in Freiburg abgeheftet wurde.
Jetzt kommen auch die Dekane nicht mehr zur Visitation. Heute gibt es LEVI. Die Gemeinden sollen sich selbst einschätzen und beurteilen.
Ob die Verantwortlichen in Freiburg auf diese Weise mehr von der Wirklichkeit erfahren, als die Bischöfe damals, die auf ihren Vistiationsreisen alle fünf Jahre ihre Gemeinden erlebt haben?
Bischof Duvernin kam 1762 nach Ettenheim und er stellte fest, dass sich "die ganze Kirche in einem erbärmlichen Zustand" befände. Auf einem "hochgelegenen Platz mit schwierigem Zugang" erbaut, fasse sie nicht mehr alle Pfarrangehörigen, damals waren das schließlich 300 Familien. Und die Jugend hatte keinen Platz mehr bei der Christenlehre, Der Turm war ohne Dach und drohte zusammenzustürzen, die Glocken hingen schon auf dem Friedhof, unter einem erbärmlichen Dach, weil man sie sicherheitshalber vom Turm genommen hatte. Zu hören waren sie kaum.
Bischof Duvernin hat daraufhin angeordnet, dass die Pfarrkirche "in allen Teilen neugebaut und erweitert" werden solle. und weil der Zugang zur Kirche so gefährlich sei, solle anderswo in der Stadt ein geeigneter Platz gefunden werden. Und das war unverzüglich umzusetzen! Der Bischof drohte sogar mit dem Interdikt, wenn dieser Anordnung nicht Folge geleistet werden würde. Er hatte sich schließlich selbst einen Eindruck verschafft. Und deshalb bewegte sich jetzt auch etwas.
Warum sich heute wohl so wenig bewegt...
Dieser Frage können Sie ja gelegentlich selbst weiter nachspüren. Ich möchte jetzt der Frage nachgehen, warum Sie jetzt trotz allem genau hier sitzen. Denn hätten die Ettenheimer das umgesetzt, was Ihnen der Weihbischof aufgetragen hat, dann stünde die Kirche heute ja nicht hier. Sie stünde vielleicht da, wo sich das Spital befindet. Oder im Bereich des Freihofs beim unteren Tor.
Bequemer wäre es sicher gewesen, gerade für die Älteren. Und notwendig wäre es auch nicht mehr gewesen, dass die neue Kirche auf dem Berg steht.
Rekonstruktion der alten Ettenheimer Kirche.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Im Turm der alten war noch eine Wachstube untergebracht, auch für die Feuerwache, was ja zu allen Zeiten wichtig war. Aber so etwas war in der neuen Kirche zu keiner Zeit mehr vorgesehen. Und größer zu bauen als zuvor, das war hier auf dem Berg eine regelrechte Herausforderung. Das Gelände müssen Sie sich viel steiler als heute vorstellen. Hier oben gab es noch keine ebene Fläche. Das musste alles erst abgetragen werden.
Aber die Ettenheimer hatten schon immer ihren eigenen Kopf, ihren Stolz und auch ihren Dickschädel. Und so sollte auch die neue Kirche weithin sichtbar als Wahrzeichen der Stadt hoch oben auf dem Berg stehen.
Bei dieser Entscheidung wird es unter den Ettenheimern wohl kaum Widerspruch gegeben haben. Als es aber darum ging, dass dann alle mit anpacken mussten, sah das schon wieder etwas anders aus. Alle Bürger, die ein Pferd besaßen mussten nämlich für den neuen Kirchenbau Fronfuhren leisten. Man musste schließlich viel Material auf den Berg hinauf- und Abraum heruntertransportieren. Aber die Ettenheimer wussten sich vor solchen Aufgaben zu drücken. Man hat einfach sein Pferd verkauft, um sich der leidigen Pflicht zu entledigen.
Als wenige Jahre später Marie-Antoinette bei ihrem Brautzug auf dem Weg nach Straßburg auf der heutigen B3 an Ettenheim vorbeifuhr und die Ettenheimer den Brautzug ein Stück weit zu geleiten hatten, gab es so wenige Pferde in der Stadt, dass man sie sich welche in Ringsheim ausleihen musste, um sich vor der zukünftigen Königin von Frankreich nicht bis auf die Knochen zu blamieren.
Nichtsdestoweniger stand am Ende die neue Kirche wieder hoch oben über der Stadt, wie es die Ettenheimer seit altersher eben gewohnt waren.
Detail des Hochaltares.
Foto: Jörg Sieger, 2004
Wussten Sie übrigens, dass anders als heute, in der alten Kirche durch das Fenster über dem Altar am Mittag die Sonne mit Sicherheit nicht hineingeschienen hat?
Warum ich das weiß? Nun, weil der Altar in der alten Kirche nicht hier gestanden hat. Der stand auf dieser Seite, auf der, auf der sich heute die Kanzel befindet. Denn hier ist Osten und die alte Kirche war natürlich wie alle alten Kirchen nach Osten ausgerichtet. Man richtete sich dem aufgehenden Licht zu. Das Licht aus dem Osten symbolisierte den auferstandenen Christus. Und zu diesem aufgehenden Licht hin, zum Orient, richtete man sich aus. Nicht umsonst kommt genau daher unser Wort Orientierung. Orientierung gibt dem Leben nämlich der Auferstandene, den das aufgehende Licht bezeichnet.
Im 18. Jahrhundert dachte man daran nicht mehr so sehr. Diese alte Symbolik war weithin verloren gegangen.
Entwurf von Franz Joseph Saltzmann.
Stadtarchiv Ettenheim
Nichtsdestoweniger hat auch Franz Josef Saltzmann für seinen ersten Entwurf der neuen Ettenheimer Kirche die Ost-West-Richtung gewählt. Es wäre ein ganz anderer Eindruck entstanden. Der Turm hätte seinen Platz zum Rhein hin gehabt und die Bilder unseres so markanten Kirchberges hätte es nie gegeben.
Aber wie schon gesagt, die alte Symbolik war weithin verloren gegangen Joseph Anton Budingers Plan verlegte den Chor deshalb in den Süden und ermöglichte zur Kirchstraße hin die markante Fassade mit dem Anblick, der künftighin das Stadtbild prägen sollte, und von unzähligen Touristen heutzutage fotografiert wird. Und darum steht der Altar heute im Süden und das Licht fällt am Mittag durch das zentrale Fenster im Chor.
Aber auch, wenn man auf Himmelsrichtungen sonst keinen so großen Wert mehr gelegt hat, einen Zusammenhang hat man auch in Ettenheim beibehalten: Die linke Seite war nämlich immer die für die Frauen. Rechts war die Männerseite.
Erstkommunionfeier am 5. April 1959.
Foto: Martha Oehler [Ausschnitt]
Ich kenne das noch von den Plätzen für die Schülerinnen und Schüler im Gottesdienst. Die Mädchen saßen immer links. Und links saßen auch die alleinstehenden Frauen.
Einen Mann hat man früher kaum einmal auf dieser Seite gesehen. Ganz im Gegenteil. In meiner Kindheit war es zwar schon üblich, dass Verheiratete gemeinsam in der Bank saßen. Das hieß aber nicht, dass ein verheirateter Mann mit seiner Frau sich auf die Frauenseite saß. Verheiratete Frauen wechselten ganz rasch zu ihren Partnern auf die Männerseite. Wenn sich doch einmal ein Paar auf die Frauenseite verirrte, dann wurde es zumindest von Mesners Elis ganz kritisch beäugt und komisch angeschaut. Denn das war die Seite allein für die Frauen! Aber warum? Warum saßen Frauen seit jeher dort?
Das hängt ursprünglich tatsächlich an den Himmelsrichtungen. Wenn Sie sich vorstellen, dass die Kirchen ursprünglich alle nach Osten ausgerichtet waren, dann lag die von ihnen aus gesehen rechte Seite im Süden. Süden aber ist die Seite des Lichtes, des Lebens und der Herrlichkeit. Und deshalb war es in der Tradition auch die Seite der Herren, der Männer, die sich, wie immer in der Geschichte dieser Kirche, die von Männern dominiert war und dominiert ist den besten Teil gesichert haben. Und theologisch begründet haben sie es damit, dass durch den Sündenfall der Eva, also durch die Frau die Sünde in die Welt hineingekommen ist. Und deshalb hat man die Frauen auch auf die Nordseite verbannt, auf die Seite der Finsternis, des Todes und der Sünde.
Jahrhundertelang haben sich Frauen das klaglos gefallen lassen. Und bis heute lassen sich Frauen in dieser Kirche sehr viel gefallen. Und Männer geben sich alle Mühe, das auch noch theologisch messerscharf zu begründen - auch wenn solche Begründungen meist nicht sehr viel schlüssiger und kaum besser klingen, als wenn muslimische Gelehrte sich darum bemühen, den Umstand, dass Frauen nicht Auto fahren dürfen, mit dem Willen Gottes zu erklären.
In Ettenheim ist das mit der Männer- und Frauenseite - Ironie der Geschichte - jetzt allerdings etwas anders ausgegangen. Aus der Tradition hatte man die unterschiedlichen Seiten ja beibehalten. Die Himmelsrichtungen die einen Kirchenbau nach derselben Tradition aber bestimmten, die hatte man ja nicht mehr berücksichtigt. Und deshalb saßen die Frauen in der neuen Ettenheimer Kirche nie auf der Nordseite. Sie saßen im Osten auf der Seite, auf die man klassischerweise den Altar gestellt hätte. Die Frauen saßen jetzt auf der Seite des wiederkommenden Christus.
Und die Männer saßen im Westen, dort, wohin man früher die Figur des Michael platzierte, der die Kirche vor dem Teufel beschützen sollte. Denn der Westen, die Himmelsrichtung, die vom Untergang der Sonne geprägt war, galt als Seite des Teufels. Und dorthin hatte man in Ettenheim jetzt die Männer gesetzt.
Den Frauen gehörte die Seite der aufgehenden Sonne.
Marienalter.
Foto: Jörg Sieger, 2003
Dort steht auch der Marienaltar, auf der - von Ihnen aus gesehen - linken Seite. Dort steht er fast immer. Eigentlich logisch, dass auch Maria auf der Frauenseite zu suchen ist. Aber das ist nur bedingt der eigentliche Grund.
Nur warum steht der Marienaltar dann üblicherweise auf der linken Seite - und vor allem - warum ist es in Ettenheimmünster anders?
Natürlich kann man jetzt damit argumentieren, dass ein Marienaltar wie selbstverständlich auf die Nordseite gehört. Denn wie durch Eva als erste Frau die Sünde in die Welt gekommen sei, so habe Maria als neue Eva dem Heil zum Durchbruch verholfen und deshalb bringt sie dieses Heil nun auch symbolisch in die Finsternis des Nordens und heilt damit irgendwie auch die Frauenseite in den Kirchen. So können Sie das sicher auch da und dort lesen.
Der eigentliche Grund dafür, dass der Marienaltar auf dieser Seite steht, ist aber ein anderer: Es liegt am Hochaltar, als dem Ort, der mit der Gegenwart Christi verknüpft ist. Und der Marienaltar steht, vom Hochaltar aus betrachtet, dann natürlich zur Rechten Christi, und dort gehört die Gottesmutter der Rangfolge der Heiligen entsprechend ja selbstverständlich auch hin.
Landelinsaltar in der Wallfahrtskirche Ettenheimmünster.
Foto: Jörg Sieger, 2002
Umso dreister, dass das in Ettenheimmünster nicht der Fall ist. In der Landelinskirche, einem der ganz, ganz wenigen Fälle, die ich kenne, hat man den Altar der Gottesmutter zur Linken des Hochaltares platziert. Zur Rechten, auf dem Ehrenplatz finden Sie dort den Landelinsaltar.
Ich glaube nicht, dass man im Mittelalter das so gemacht hätte. Wallfahrtskirche hin, Wallfahrtskirche her, die Reihenfolge in der Hierarchie der Heiligen so durcheinanderzubringen, hätte man sich damals wohl kaum getraut. Jetzt aber hat in Ettenheimmünster der Märtyrer vor der Gottesmutter den Ehrenplatz inne. Eine mehr als seltene Ehre, die dem Heiligen Landelin hier zuteil wird.
Die Heilige Agatha - Gemälde von Johann Pfunner.
Foto: Jörg Sieger, 2003
Dass die Heilige Agatha oberhalb des Marienbildes platziert wurde, ist wiederum keine Frage. Die Frauen stellte man natürlich zusammen dar. Maria als bedeutendere Heilige größer, Agatha entsprechend kleiner.
Aber warum hat diese Heilige jetzt ein Tablett in der Hand und was genau liegt darauf?
Nun, die Antwort auf diese Frage hing in der Vergangenheit ganz stark davon ab, wer sie gestellt hatte. Pubertierenden Jugendlichen, wie wir es damals waren, erzählte man natürlich, dass Agatha ein Tablett mit Broten in ihrer Hand hielt. Das schreibt sogar noch Philipp Harden-Rauch in seinem Büchlein über die Kirche. Und er denkt dabei selbstverständlich an das Agathabrot, das am 5. Februar, dem Gedenktag der Heiligen gebacken wurde. In vielen Gegenden vor allem im Alpenraum ist das bis heute noch der Fall.
Aber dargestellt wird die Heilige Agatha in der Ikonographie selbstverständlich nicht mit Broten. Es ist ihre Brust, die ihr der Legende nach bei lebendigem Leib von den Folterknechten abgeschnitten wurde.
Die Heilige Agatha - Gemälde von Johann Pfunner (Detail).
Foto: Jörg Sieger, 2003
Und Johann Pfunner hat bei seiner Darstellung der Heiligen wohl auch kaum pubertierende Jugendliche im Blick gehabt, denn sein Gemälde ist mehr als realistisch und mit dem Blut, das im Teller zusammenrinnt auch mehr als drastisch.
Ein Agathabrötchen aus Südfrankreich.
© Michel Royon / Wikimedia Commons, Mons Ste-Agathe Pain, CC BY-SA 3.0
Realistisch sind übrigens nicht minder die Agathabrote, wie sie heute noch da und dort gebacken werden. Und vielsagend die Praktiken, die damit verbunden sind.
Sie sollen, vom Pfarrer in aller Frühe gesegnet, vor allerlei Krankheiten der Brust bewahren, und den Milchfluss der Frauen gleich nach Geburt eines Kindes sollen sie ebenfalls sichern. Vielsagend - machen sie doch deutlich, wie wenig von dem, was dieser Jesus von Nazareth eigentlich wollte, in den Köpfen der Christenheit auch nach Jahrhunderten tatsächlich angekommen ist.
Diesem Jesus ging es um den Glauben an Gott und die Menschen hängen immer noch zig verschiedenen Formen von Aberglauben nach. Ihm ging es um Vertrauen in Gottes Führung und die Menschen verlangen nach Praktiken, die ihnen einem Zauber gleich, das Heil sichern. Er predigte eine lebendige Beziehung zu Gott und die Menschen flüchteten und flüchten sich zu allen Zeiten in Hokuspokus und Magie.
Sebastiansaltar.
Foto: Jörg Sieger, 1979
Um Rückversicherung vor Krankheit geht es letztlich auch bei der zentralen Figur am dem von Ihnen aus gesehen rechten Seitenaltar, dem Sebastiansaltar. Ich selbst habe in Bruchsal jedes Jahr noch eine Sebastianusandacht erlebt, die die Gemeinden in den großen Pestzeiten gelobt hatten und die bis heute gehalten wird.
Eine Sebastiansbruderschaft gab es auch in Ettenheim und Hintergrund war selbstverständlich auch hier die Pest. Denn der Pestheilige, der - nach Vorstellung der mittelalterlichen Menschen die Pest als Strafe schickte und auch davor bewahren konnte - war eben der Heilige Sebastian. Der wusste wahrscheinlich selbst nicht, wie er dazu kam.
Es waren seine Wunden die ja von den Pfeilen verursacht wurden, mit denen er nach der Legende exekutiert werden sollte. Diese Wunden aber erinnerten die Menschen im Mittelalter an die Flecken und Pestbeulen, durch die die Körper der Erkrankten über und über gezeichnet waren. Und deshalb rief man den Heiligen Sebastian auch in der Not der Pest ganz besonders an, obschon dieser Heilige außer dieser bildlichen Nähe zu den Pestflecken kaum eine andere Qualifikation für diese Aufgabe vorzuweisen hatte.
In unserem Zusammenhang interessieren mich allerdings mehr die Unregelmäßigkeiten, die Sie in diesem Bild erkennen können.
Martyrium des Heiligen Sebastian - Gemälde von Johann Pfunner.
Foto: Jörg Sieger, 1979
Im Hauptbild dieses Altars können Sie nämlich regelrechte Wellenlinien ausmachen, die aussehen, als wäre das Bild irgendwie beschädigt worden. Warum ist das so und warum nur auf diesem Bild?
Nun, es ist keine Beschädigung und ursprünglich war es beim Marienaltar gar nicht viel anders. Beide Bilder waren anfangs nämlich deutlich kleiner - Sie können die alte Größe noch deutlich erkennen.
Martyrium des Heiligen Sebastian - Gemälde von Johann Pfunner.
Foto: Jörg Sieger, 1979, Markierung: Jörg Sieger, 2018
Johann Pfunner hat beide Bilder auf Wunsch der Auftraggeber dann einfach an allen Seiten etwas vergrößert indem überall ein Streifen Leinwand einfach angestückelt wurde. Die unschönen Wellenlinien nahm man dabei offenbar in Kauf. Sie waren das Ergebnis des Anstückelns der Leinwand und demnach notwendiges Übel der Vergrößerungsaktion.
Beim Marienaltar sehen Sie diese Linien nicht. Das hängt einfach damit zusammen, dass sie das ganze Bild nicht mehr sehen. Es war im 19. Jahrhundert stark nachgedunkelt und wurde als unschön empfunden. Man hat es kurzerhand herausgerissen und durch das heutige Altarbild ersetzt - ein Gemälde im Nazarener-Stil, an das sich die Ettenheimer so gewöhnt haben, dass kaum jemandem auffällt, dass es stilistisch eigentlich gar nicht hierher passt.
Hochaltargemälde von Johann Pfunner.
Foto: Jörg Sieger, 2004
Übrigens blieb dem Hochaltarbild dieses Schicksal erspart. Denn eigentlich wurde über seine Entfernung auch schon diskutiert. Die furchtbare Marterszene fand man einige Jahrzehnte nach ihrer Entstehung nicht mehr besonders schön und wollte sie eigentlich ersetzen. Man dachte dabei an ein Bild das davon handelte, wie Bartholomäus König Polymius tauft, nachdem er dessen irrsinnige Tochter geheilt hatte. "Es ist dies ein großer Moment zur bildlichen Darstellung, in welcher der widerliche Eindruck der Schinderszene vollkommen beseitigt würde.", schrieb Hofmaler Wilhelm Dürr aus Freiburg damals.
Glücklicherweise ist uns das Bild Johann Pfunners erhalten geblieben. Die Szene, die er gewählt hat, erklärt nämlich um vieles mehr, warum Bartholomäus überhaupt Patron der Ettenheimer Pfarrkirche geworden ist - viel mehr als jede schöne Taufszene der Welt.
Und warum ist nun Bartholomäus Ettenheimer Patron?
Ursprünglich war er es schließlich nicht. Zumindest bei der Vorgängerkirche scheint der eigentliche Patron früher einmal ein anderer gewesen zu sein. Ettenheim hatte eine Martinskirche.
Das nimmt nicht Wunder. Martinskirchen sind überwiegend sehr alte Kirchen und waren meist Mutterkirchen, von denen später andere Pfarrkirchen abgepfarrt wurden. Das würde in die Zeit der Gründung Ettenheims auch ganz gut passen. Und dieses Patrozinium des Heiligen Martin hat sich sogar bis in die Gegenwart hinein erhalten. Was die wenigsten wissen: Die Ettenheimer Stadtpfarrkirche ist nicht nur dem Bartholomäus geweiht, sie hat auch noch den alten Patron St. Martin als Nebenpatron erhalten. Der Heilige Martin ist bis heute Nebenpatron der Stadtkirche und so steht er ja auch noch fast lebensgroß als Figur auf der linken Seite des Hochaltares.
Statue des Heiligen Martin.
Foto: Jörg Sieger, 2004
Und falls in Ettenheim noch nach einem Patron der Seelsorgeeinheit und neuen Kirchengemeinde gesucht würde - andernorts hat man dafür ja ziemlich künstlich neue Patrone eingesetzt - der Martin würde sich dafür dann durchaus anbieten - und das nicht nur, weil es gleichzeitig der Namenspatron des derzeitigen Pfarrers ist.
Dass Bartholomäus den Martin langsam auf die Seite gedrückt hat, das hängt wohl nicht zuletzt an der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt. Günstig am Bach gelegen blühten schließlich die Gerbereien im Ort. Und sie hinterließen ihre Spuren ... deutlich sichtbar in der Umwelt - nicht umsonst heißt es: "Eddene im Städtli, wo d'Ente im Dräck schwimme" - und sie hinterließen ihre Spuren im kirchlichen Leben. Der Patron dieses bedeutendsten Handwerkszweiges der Stadt, der Heilige Bartholomäus, wurde jetzt zum Patron von Pfarrei und Kirche.
Warum aber Bartholomäus zum Patron der Gerber geworden war, macht Johann Pfunner auf seinem Altargemälde recht deutlich.
Das Martyrium des Heiligen Bartholomäus -
Gemälde von Johann Pfunner.
Foto: Jörg Sieger, 2004
Mit diesem Handwerkszweig hatte der historische Jünger Jesu zwar eigentlich überhaupt nichts zu tun. Es war wieder einmal sein Martyrium, das ihn in die Nähe des Gerberhandwerks brachte. Laut seiner Legende wurde ihm ja bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, es wurde ihm, fast schon sprichwörtlich, das Fell gegerbt. Und das reichte aus, um ihn für die Gerber zum Fürsprecher in ihren Anliegen zu machen. So wurde er ganz allgemein zum Patron der Gerber.
Mit dem Hochaltar sind wir bereits im Chorraum angelangt. Und dort fällt auch bei oberflächlicher Betrachtung auf, dass alles irgendwie einen Ton feiner ist als im Langhaus der Kirche.
Blick zum Chorraum.
Foto: Jörg Sieger, 2004
Die Malereien sind von etwas besserer Qualität, der Stuck ist reichhaltiger und die Ausstattung insgesamt prächtiger. Das wäre mein vorletztes "Warum" für den heutigen Abend. Warum ist das denn so?
Sie können das natürlich leicht theologisch und liturgisch erklären. Es geht hier schließlich um den Chorraum mit dem Hochaltar und dem zentralen Ort für das liturgische Geschehen.
Die Wirklichkeit ist aber noch ein wenig vielschichtiger. Die sichtbaren Unterschiede zwischen Chor und Langhaus bilden auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten für den Bau des Gebäudes ab. Für das Langhaus war die Gemeinde zuständig.
Blick zur Orgel.
Foto: Jörg Sieger, 2002
Das zu errichten - und das heißt vor allem: das zu bezahlen - war Sache der Ettenheimer.
Chor und Turm war Sache des Klosters. Das Kloster Ettenheimmünster hatte in Ettenheim das Recht den Zehnten einzuziehen. Freihof und Zehntscheuer waren immer schon sichtbare Zeichen einer gewichtigen und vor allem einträglichen Präsenz des Klosters in der Stadt.
Rechte beinhalten aber immer auch Pflichten. Und eine der Pflichten war die Sorge für den Turm und den Chor der Ettenheimer Kirche.
Vielleicht hängt die Baupflicht für den Turm damit zusammen, dass in der alten Kirche, wahrscheinlich einer Chorturmkirche, der Chor mit dem Allerheiligsten ganz einfach im Turm gelegen war.
Rechte schöpft man gemeinhin gerne aus. An die Pflichten wird man nur ungern erinnert.
Das war auch beim Bau der Kirche so. Langwierige Rechtstreitigkeiten, Auseinandersetzungen über Art und Größe des Turmes und wie das Ganze auszuschmücken war begleiteten den Bau. Und sie illustrieren die jahrhundertelange Rivalität zwischen Kloster Ettenheimmünster auf der einen und Stadt Ettenheim auf der anderen Seite. Und hinter der Stadt stand letztlich das Hochstift mit dem Bischof in Straßburg. Bis zur Aufhebung des Klosters dauerten die Auseinandersetzungen zwischen beiden Potentaten an.
Und sie machen wieder einmal mehr als deutlich, worum es in der "Kirche Gottes" durch all die Jahrhunderte häufig in aller erster Linie gegangen ist: Um Einfluss, um Macht, um Besitz und um viel, viel Geld. Das fängt in den Pfarreien vor Ort an, geht weiter über die Prälaten in den Klöstern und führt über die Bischöfe direkt nach Rom. Und sie wissen es selbst: überall ging es weit weniger "heilig" zu, als es die Kirche gerne hätte. So manches was man von der Kirche, bis hin zum sogenannten "Heiligen Stuhl" zu berichten weiß, erinnert mehr an Stuhl und den damit zusammenhängenden Gang als an irgendwelche Spielarten von Heiligkeit.
Nichtsdestoweniger kam das Kloster zähneknirschend seinen Verpflichtungen nach. Und da es über die besseren Künstler verfügte als diejenigen, die sich die Stadt leisten konnte oder wollte, schlägt sich das heute noch in der reicheren Ausgestaltung des Chores nieder.
Im Chor findet sich dann auch das letzte Detail, auf das ich heute hier hinweisen möchte.
Die Kapelle über der Sakristei.
Foto: Jörg Sieger, 2002
Es gibt dort ein Fenster, das zwar aus Glas und auch durchsichtig ist, durch das Sie aber nicht ins Freie schauen können. Warum das wohl so ist? Das wissen in Ettenheim schon die Kinder.
Es ist das Fenster zur Kapelle über der Sakristei. Und diese Kapelle ist erst einige Jahre später als die übrige Kirche entstanden. Kardinal Louis René de Rohan hat dieses zweite Stockwerk errichten lassen. Nachdem er 1790 vor der Französischen Revolution in den rechtsrheinischen Teil seiner Besitzungen nach Ettenheim geflohen ist, hat er diesen Raum benutzt, um selbst ungesehen am Gottesdienst teilnehmen zu können. Die beiden kleinen Fenster, die man öffnen kann, ermöglichen den ungestörten Blick auf Kanzel und Hochaltar. In dieser Zeit hat die Pfarrkirche einige große Feste und Gottesdienste erlebt.
Es war eine turbulente Zeit, die ihr auch ganz neue Ehren einbrachte. Als 1801 die Bistümer in Frankreich neu geregelt wurden gab es ja plötzlich zwei Straßburger Bistümer. Einmal das neu geordnete Bistum Straßburg im Elsass mit dem Bischofssitz in Straßburg und dann den Rest der alten Diözese auf linksrheinischem Territorium mit dem in Ettenheim residierenden Kardinal.
In diesen Jahren war die Ettenheimer Stadtpfarrkirche tatsächlich Bischofskirche des alten Straßburger Bistums. Und damit war sie die letzte Bischofskirche dieses alten Bistums Straßburg. eine Bezeichnung, die Sie mittlerweile durchaus öfters lesen können. Freut mich, denn der erste, der diesen Ausdruck so verwendet hat, war ich.
Louis de Rohan.
Foto: Schreiber, St. Peter
Mich hat das Schicksal des letzten Rohan-Kardinal auch immer ganz besonders gepackt. Lange habe ich nicht gewusst "Warum?". Sie ist ja eigentlich nicht besonders sympathisch, diese Gestalt des Barockfürsten, der völlig naiv und weltfremd in diese Zeit des Umbruchs hineingestolpert ist. Mittlerweile glaube ich die Zusammenhänge und Parallelen deutlicher zu verstehen und sie machen mir deshalb auch gutes Stück weit Angst.
Vielleicht fühle ich mich deshalb so sehr mit diesem Louis de Rohan verbunden, weil er uns so ähnlich ist. Er war ein Adliger, der durch seine Geburt in eine gesellschaftliche Schicht hineingeboren wurde, die ihm alle Privilegien gleichsam in den Schoß gelegt hat. Und er war so weit weg von der Lebenswirklichkeit der anderen Menschen, dass er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, warum dieselben keinen Kuchen aßen, wo es ihnen doch an Brot mangelte.
Je länger ich unsere Welt betrachte, desto mehr erlebe ich heute erschreckende Parallelen zu dieser Zeit. Gut, Adel spielt bei uns keine große Rolle mehr. Aber Geburt ist immer noch, und wieder sehr viel stärker als in den zurückliegenden Jahrzehnten ausschlaggebend dafür, welchen Verlauf unser je persönliches Leben nimmt.
Ich hatte das Glück in eine Familie und eine Zeit geboren zu werden, die mir alle Chancen auf die Zukunft eröffnete. Ich hatte das Glück, in ein Land hineingeboren worden zu sein, das zu den reichsten der Erde gehört, das mir Reisen möglich machte, ein Leben in Wohlstand und Sicherheit und alle Privilegien in den Schoß hineingelegt hat, die es überhaupt gibt. Und ich erlebe, wie viele mit mir zusammen, sich schon gar nicht mehr vorstellen können, unter welch erbärmlichen Bedingungen Menschen in anderen Gegenden dieser Erde leben müssen.
Die Schere zwischen denen, die von Geburt an reich sind und fast alles haben, und denen, die nichts anderes verbrochen haben, als in Armut geboren zu sein, wird immer größer. Und sie nimmt weltweit betrachtet ganz ähnliche Dimensionen an, wie die Kluft zwischen den Ständen in Frankreich am Vorabend der Französischen Revolution.
Wenn wir es nicht fertigbringen für Ausgleich zu sorgen, für Gerechtigkeit und dafür, dass alle Menschen das bekommen, was sie zu einem guten Leben brauchen, dann mag es uns möglicherweise über kurz oder lang nicht viel anders gehen als den Adligen in Frankreich in der Zeit nach dem Sturm auf die Bastille.
Die Welt im Zeitalter der Globalisierung ist zu einem Dorf geworden. Und wir sollten die Vorzeichen eines künftigen Sturms sehr wach erkennen und deuten lernen.
Wir müssen vermutlich noch sehr dankbar dafür sein, wenn so viele Menschen, die unverschuldet keine Perspektive mehr sehen und häufig sogar deshalb, weil wir unseren Wohlstand auf ihre Kosten leben, wenn so viele von ihnen momentan bei uns anklopfen und uns um Hilfe bitten. Wir müssen vermutlich noch dankbar dafür sein und wir müssen reagieren, sonst werden sie eines Tages - nicht sehr viel anders als zu Zeiten eines Kardinal Rohan - vor unseren Palästen stehen und sich holen, was ihnen genauso zusteht, wie uns.
Vielleicht rührt mich die damalige Zeit und die Person dieses Barockfürsten ja gerade deshalb so ungemein stark an.
Aufnahme aus dem Jahr 1976.
Foto: Jörg Sieger, 1976
Ja, sie stimmt mich nachdenklich, die Zeit, in der diese Kirche entstanden ist. Diese Kirche stimmt mich nachdenklich. Dieser Kirchenbau stellt Fragen. Anfragen an uns selbst, unsere Art zu glauben und unsere Art zu leben. Und er regt an, weiterzudenken, Linien auszuziehen, auf unsere gesellschaftliche, kirchliche und je persönliche Wirklichkeit hin.
Er tut dies seit 250 Jahren und er wird es auch weiter tun. Selbst dann, wenn hier einmal keine Gottesdienste mehr gefeiert werden. Wir werden weiterhin angeregt und hinterfragt, wenn wir sie uns nur erhalten, die Sensibilität für einen Kirchenbau nämlich, der mit seiner Botschaft so aktuell wie am ersten Tag geblieben ist.
Wir brauchen diese Sensibilität, diese Hörsamkeit und dieses wache Gespür, um uns von diesen Fragen anrühren zu lassen. Wir brauchen sie, um unserer selbst willen. Der Bau wird diese Fragen weiter stellen, denn genau das ist letztlich auch seine Bestimmung, genau dazu ist er schließlich da.
(gehalten am 17. Juni 2018 in der Stadtpfarrkirche St. Bartholomäus, Ettenheim)