Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
14. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 11,25-30)
In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht. (Mt 11,25-30)
Liebe Schwestern und Brüder,
in der Antike erzählte man von einer Gestalt - einer recht tragischen Gestalt. Man berichtete von einem Riesen, der von den Göttern dazu verurteilt worden war, am Ende der Welt, dort wo Himmel und Erde zusammentreffen, die Säulen zu tragen, jene Säulen, auf denen das Firmament ruht und das Himmelsgewölbe gründet. Man nannte ihn Atlas, diesen Riesen, und er musste nun dastehen, und auf seinen Schultern die Säulen des Himmels tragen. Hätte er auch nur einen Augenblick losgelassen, dann wäre das ganze Firmament zusammengebrochen, dann wäre der Himmel auf die Erde gestürzt. So stand er nun da, jahrein, jahraus, und trug das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern.
Eine wahrhaft tragische Gestalt, dieser Atlas, der dazu verdammt war, den Himmel zu tragen - so tragisch wie viele Gestalten, die eine wahrhaft tragende Rolle haben. Denn genauso wie dieser Atlas, genauso fühlen sich ja viele, die in ihrer Funktion unersetzlich sind und auf deren Schultern die ganze Verantwortung ruht. Da kommt man sich manchmal vor, als wäre man eingespannt zwischen Himmel und Erde, wie in einem riesigen Schraubstock, eingespannt unter einer drückenden Last, die man nicht los werden kann und vor der man nicht im Geringsten weiß, wie man sie auf Dauer zu tragen in der Lage sein soll.
Egal, ob Politiker oder Unternehmer, Einzelhändler oder Mutter in einer Familie - Ruhe gibt es da nicht, Zeit zum Durchschnaufen kennt man höchstens aus der Erinnerung. Irgendeines der Kinder möchte immer etwas von der Mutter, im Büro klingelt irgendwo immer das Telefon, und jeder Händler kennt die stets drohende Gewissheit, dass die Konkurrenz nicht schläft.
Wer so eingespannt ist, eingezwängt zwischen einer Fülle von Aufgaben, von Arbeiten, von Prüfungen, der kommt sich mehr als nur einmal vor wie jener Atlas, auf dessen Schultern der ganze Himmel lastete, der mehr als nur Mühe hatte, von dieser Last nicht erdrückt zu werden.
"Kommt alle zu mir, die Ihr euch müht und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen."
Dieser Satz Jesu klingt hier tatsächlich wie ein Evangelium: "Ich werde euch Ruhe verschaffen."
Ein verlockendes Angebot! Da ist einer, der für Ruhe - wörtlich "Erquickung" - sorgen will!
Aber freuen Sie sich jetzt nicht zu früh! Wer nun erwartet, dass uns Jesus ein Rezept liefern würde, wie wir aus dieser dauernden Anspannung herauskommen können, den muss ich gleich enttäuschen! Er sagt uns nämlich keines! Und er nimmt uns auch keine unserer Aufgaben ab.
Und vielleicht tut er es, weil er genau weiß, dass wir das eigentlich auch gar nicht wollen. Dass er uns das, was uns so schwer auf den Schultern lastet, wirklich wegnimmt, das wollen wir im Letzten doch gar nicht.
Welche Mutter würde wollen, dass die Kinder, die ihr zwischendrin so auf die Nerven gehen, gar nicht mehr da wären? Welcher Mandatsträger möchte, dass er sein Amt plötzlich aufgeben muss? Und welcher Einzelhändler will denn schon, dass sein Geschäft nie mehr öffnen würde?
Vielleicht hat Jesus ganz richtig erkannt, dass wir die Lasten, die wir tragen, im Letzten gar nicht loswerden möchten. Vielleicht weiß er ja sehr wohl darum, dass es uns im Grunde vor allem darum geht, dass sie wieder tragbar werden, dass wir sie auch wirklich tragen können.
Und dafür nennt er uns tatsächlich ein Rezept: "Schaut auf mich und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig." Das setzt er dagegen. Das ist seine Antwort auf dieses dauernde Gefühl des bis zum Gehtnichtmehr Beladenseins. "Schaut euch an, wie ich es gemacht habe: Lernt von mir, denn ich bin demütig!"
Ich weiß, das könnte man jetzt ganz gewaltig missverstehen. Demütig zu sein, das klingt bei uns nach stillhalten, danach, dass man sich halt seinem Schicksal ergeben und ohne zu klagen einfach aushalten muss. Jesus meint dieses Wort aber anders. Er meint es in seiner ursprünglichen Bedeutung: Demütig sein, das heißt vom Wort her ja nichts anderes, als "dien-mutig" zu sein, den Mut zum Dienen zu haben, den Mut zu haben, sich für etwas einzusetzen. In diesem Sinne war Jesus dien-mutig. Er hatte den Mut, einer gewaltigen Aufgabe zu dienen.
Und: Er hatte den Mut - das war das Entscheidende. Er selbst hatte sich dazu entschlossen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Das unterscheidet ihn von diesem Atlas. Atlas musste die Säulen tragen, ob er wollte oder nicht. Jesus wollte! Er wollte diese Aufgabe übernehmen, denn er wusste, dass sie notwendig und dass sie sinnvoll war. Und diese Überzeugung gab ihm letztlich die Kraft zu tragen und dabei wahrhaft Übermenschliches zu tragen.
Wenn wir Menschen wissen, warum wir etwas tun, wenn wir spüren, dass etwas sinnvoll ist, und wenn wir etwas dann auch wirklich tun wollen, dann sind wir zu Ungeheurem fähig. Schwierig wird es meist erst dann, wenn wir das im Trubel des Alltages langsam vergessen.
Deshalb sieht manches, was uns zwischendurch oft so schwer von der Hand geht, schon wieder ganz anders aus, wenn wir es ab und zu wieder einmal mit etwas Abstand betrachten. Wenn die Kinder einmal ein paar Tage aus dem Haus sind, dann weiß eine Mutter meist sehr schnell wieder darum, dass sie Mutter sein will und dass sie ihre Kinder, so sehr sie ihr ab und an auch auf die Nerven gehen, trotz allem um nichts in der Welt wirklich missen möchte.
Manchmal brauchen wir solchen Abstand; Abstand zu den Kindern, zum Beruf, zu all unserem Engagement, zur alltäglichen Tretmühle eben; Abstand, um zur Ruhe zu kommen, um nachzudenken, um sich wieder einmal darauf zu besinnen, was mir wichtig ist, und warum es mir wichtig ist. Nicht umsonst legt die Bibel uns den Ruhetag so sehr ans Herz. Nicht umsonst brauchen wir alle den Urlaub und die Ferien; nicht als eine Zeit für neue touristische Höchstleistungen - sondern vor allem anderen als eine Zeit, die uns von neuem den Unterschied deutlich macht, den Unterschied zwischen jenem Atlas, der dazu verurteilt war, diese dauernde Last zu tragen, und Jesus Christus, der den Mut hatte, einer Sache zu dienen, einer Sache, von der er wusste, dass sie wichtig, sinnvoll und unabdingbar notwendig war.
Denn es ist eben ein Unterschied, ob ich etwas auf mich nehme, weil ich halt muss, weil irgendjemand mir gesagt hat, dass ich soll, oder ob ich etwas tue, weil ich um seinen Sinn weiß, und vor allem, ob ich etwas tue - ganz einfach - weil ich selbst es will!
Amen.
(gehalten am 3./4 Juli 1999 in der Peterskirche, Bruchsal)