Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
1. November - Hochfest Allerheiligen (Mt 5,1-12a) und
4. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 5,1-12a)
In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. Er sagte: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. (Mt 5,1-12a)
Liebe Schwestern und Brüder,
stellen Sie sich einmal vor, wir würden jetzt vor zweieinhalb tausend Jahren leben - und sagen wir in Palästina. Stellen Sie sich vor, wir wären jetzt gläubige Juden und befänden uns augenblicklich auf dem Weg nach Jerusalem. Wir sind also eine Pilgergruppe und kommen gerade in der Davidsstadt an.
Natürlich - am Ziel unserer Wallfahrt - ist unser erster Weg der Gang zum Tempel. Wir stehen jetzt also vor dem Eingang des Tempels und wollen hinein. Und natürlich wissen wir als gläubige Juden jetzt auch, was da auf uns zukommt. Wir wissen, dass da am Eingang ein Priester stehen wird, ein Priester, der darauf wartet, dass wir ihm eine Frage stellen werden. Das ist so etwas wie ein fester Ritus, das hat sich so eingespielt, das ist eine richtig kleine Liturgie, die da jetzt gefeiert wird, eine Art Einlassliturgie, eine Torliturgie.
Gläubige Juden der damaligen Zeit, die wussten das. Und weil sich ein paar von diesen Torliturgien bis auf den heutigen Tag erhalten haben, deshalb wissen wir es auch. Man muss zwar ein wenig genauer hinschauen, wenn man sie entdecken will, aber sie stehen mittendrin in der Bibel. Im Psalm 15 zum Beispiel. Dieser Psalm ist so eine klassische Torliturgie. Und weil wir natürlich alle den Psalm 15 kennen, deshalb wissen wir jetzt auch, welche Frage wir stellen müssen; was wir fragen müssen, um in den Tempel hineinzukommen.
Wir müssen fragen: "adonai mi jagur beahalecha, mi jischqon behar kadeschecha"
Wir fragen das als gläubige Juden selbstverständlich auf Hebräisch, aber es geht natürlich auch auf Deutsch. Und dann heißt es: "Herr, wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen auf deinem heiligen Berg?"
Und weil das ja so etwas wie ein Ritus ist, deshalb wissen wir natürlich auch, dass der Priester jetzt eine Antwort geben wird. Und solch eine Antwort, die hat sich im Psalm 15 ebenfalls erhalten. Dementsprechend müsste der Priester auf die Frage, wer eintreten darf, jetzt also etwa folgendes antworten:
"Der makellos lebt und das Rechte tut; der von Herzen die Wahrheit sagt und mit seiner Zunge nicht verleumdet; der seinem Freund nichts Böses antut und seinen Nächsten nicht schmäht; der den Verworfenen verachtet, doch alle, die den Herrn fürchten, in Ehren hält; der sein Versprechen nicht ändert, das er seinem Nächsten geschworen hat; der sein Geld nicht auf Wucher ausleiht und nicht zum Nachteil des Schuldlosen Bestechung annimmt."
Diesen oder einen ähnlichen Bescheid würde der Priester also am Eingang des Tempels geben. Und alle, die jetzt hineinwollen, die müssen sich nun die Frage stellen, ob sie es guten Gewissens wagen können, ob sie es wagen können, auch wirklich hineinzugehen, ob sie würdig sind, den Tempel zu betreten.
Ein Torbescheid, die Einlassbedingung in den Tempel, eine für Israel und das Judentum durchaus geläufige Sache.
Und weil das so geläufig war, deshalb kann ich mir sehr gut vorstellen, dass diejenigen, von denen das Evangelium heute berichtet, dass die Menschen also, die Jesus damals bei dieser Bergpredigt zuhörten, dass die ganz schnell begriffen haben, was Jesus sagen wollte, was er damit meinte, als er plötzlich diese für uns so eigenartigen Sätze sprach, als er seine Predigt mit den Worten begann, die wir heute Seligpreisungen nennen. "Der redet jetzt, wie der Priester am Eingang des Tempels!" Das sind die Einlassbedingungen, die er jetzt nennt, die Einlassbedingungen in dieses Reich, von dem er redet.
Ich bin mir ganz sicher, dass das den Menschen damals klar war. Diese Parallele zur Torliturgie am Tempel, die ist zu offensichtlich. Jesus gibt am Anfang einen Torbescheid, er nennt seine Einlassbedingungen. Er tut dies so, wie es die Menschen damals vom Tempel her gewohnt waren.
Er tut es nur ein klein wenig anders. Und auf diesen kleinen Unterschied - ich denke - genau darauf kommt es bei den Seligpreisungen an. Von diesem Unterschied her, kann ich nämlich - denk ich - erst richtig verstehen, was Jesus mit seinen Seligpreisungen sagt. Das muss den Menschen damals sofort aufgefallen sein. Die Priester am Tempel sprachen nämlich anders.
Wenn Jesus so gesprochen hätte, wie die Leute das vom Tempel her gewohnt waren, dann müsste die Einleitung zur Bergpredigt anders ausgesehen haben, dann müsste er gesagt haben: "Wenn ihr arm seid vor Gott, wenn ihr trauert, wenn ihr hungert und dürstet, wenn ihr verfolgt werdet, dann dürft ihr eintreten!" Das ist die Form, wie der Priester am Tempeleingang es gesagt hätte.
Jesus aber sagt es anders - und das haben die Menschen damals mit Sicherheit bemerkt. Wenn wir genau hinschauen, dann stellt Jesus nämlich überhaupt keine Bedingung mehr. Seine Einlassbedingungen sind genaugenommen gar keine Bedingungen, es sind Glückwünsche! Genaugenommen sind es Glückwünsche, die er ausspricht: "Ich gratuliere euch, euch Armen, euch Trauernden, euch Hungernden und Dürstenden. Ich gratuliere euch, denn ihr seid dabei!"
Und das ist genau das Eigenartige. In seinem Torbescheid nennt Jesus nicht die Bedingung. Er gratuliert Menschen, dass sie diese Bedingungen anscheinend schon erfüllt haben. Aber was für eine Bedingung, was haben die erfüllt, dass sie jetzt eintreten dürfen? Jesus lobt schließlich nicht, dass sie arm sind oder trauern oder etwa Hunger leiden. Das ist ja nicht die Bedingung. Damit umschreibt er vielmehr die Personengruppen, die er jetzt glücklich preist. Was aber haben diese Personengruppen nun erfüllt?
Nun, wir dürfen hier nicht vergessen, dass es ja genau diese Personengruppen waren, dass es genau die Armen, die Trauernden, die Hungernden und Dürstenden und auch die Verfolgten waren, die Jesus jetzt vor sich hatte. Es waren ja genau die, die jetzt zu ihm gekommen waren. Und er formuliert diese Glückwünsche anscheinend ganz bewusst auf seine Zuhörer hin: Jesus nennt die Armen und die Traurigen nicht deshalb, weil arm und traurig zu sein die Bedingung für das Himmelreich wäre. Jesus gratuliert den Armen und Traurigen, weil sie es waren, die jetzt zu ihm gekommen sind, weil sie die eigentliche Bedingung bereits erfüllt hatten, denn sie hörten ihm jetzt zu, und vor allem: sie hörten auf ihn. Und die, die auf ihn hören, das sind die, die die Bedingung für das Reich Gottes schon lange erfüllt haben. "Freuen könnt ihr euch, ihr, die ihr jetzt hier seid, ihr Armen und ihr Trauernden, ihr Hungernden und Verfolgten, freuen könnt ihr euch, denn ihr seid dabei!"
Die Seligpreisungen sind keine Gebote, und sie sind auch kein Katalog von Bedingungen. Sie sind Glückwünsche für die, die die eigentliche Bedingung bereits erfüllt haben, die gekommen sind, die zuhören und vor allem, die auf ihn hören. Und wir müssen uns deshalb - denke ich - auch davor hüten, aus den Seligpreisungen heute, so etwas wie einen Forderungskatalog zu machen. Wenn wir sie tatsächlich in unsere heutige Zeit übersetzen wollen, dann müssen wir sie als die ungeheure Verheißung begreifen, die sie damals waren und die sie heute immer noch sind. Als ob Jesus heute vor uns hintreten würde, vor all diejenigen, die heute bereit sind zu ihm zu kommen, ihm zuzuhören und vor allem auf ihn zu hören. Und als ob er jetzt sagen würde, auch zu Ihnen hier: "Selig seid ihr hier, denn ihr wollt auf mich hören. Freut und jubelt, ihr gehört dazu! Menschen wie euch gehört das Himmelreich."
Amen.
(gehalten am 31. Januar 1993 in der Schlosskirche Mannheim)