Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
26. Dezember - Hl. Stephanus (Apg 6,8-10; 7,54-60)
In jenen Tagen tat Stephanus, voll Gnade und Kraft, Wunder und große Zeichen unter dem Volk. Doch einige von der so genannten Synagoge der Libertiner und Zyrenäer und Alexandriner und Leute aus Zilizien und der Provinz Asien erhoben sich, um mit Stephanus zu streiten; aber sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen. Als sie das hörten, waren sie aufs äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Die Zeugen legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß. So steinigten sie Stephanus; er aber betete und rief: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Dann sank er in die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Nach diesen Worten starb er. (Apg 6,8-10; 7,54-60)
Es ist jetzt über dreißig Jahre her, da war ich Vikar in Breisach. Damals ging ich immer wieder an einer Tafel vorbei, die an einem Haus angebracht war. Sie erinnerte an den Kirchenhistoriker und Missionswissenschaftler Joseph Schmidlin. In diesem Haus hatte er nach seiner Zwangspensionierung gewohnt.
Zuvor war der gebürtige Elsässer Professor in Münster gewesen, aber die Nationalsozialisten hatten dafür gesorgt, dass er den Lehrstuhl dort verloren hat. Keinen Hehl hatte er aus seiner Meinung gemacht über Adolf Hitler und die Partei. In aller Öffentlichkeit hat er Stellung bezogen. Zuerst wurde er ins Staatsgefängnis eingeliefert, dann ins "Irrenhaus" und am 10. Januar 1944 starb er im Konzentrationslager Schirmeck.
Mich hat diese Persönlichkeit immer sehr beeindruckt. Und einen Eindruck hat auch jener Mann bei mir hinterlassen, der Joseph Schmidlin offenbar noch persönlich gekannt hatte. Ich habe ihn zu jener Zeit als junger Vikar in Breisach getroffen.
Und getroffen hat mich auch der Kommentar, den dieser Mann damals über Joseph Schmidlin abgeben hat. Wie meinte jener alte Breisacher?
"War doch selber tschuld. Hett er sin Mul g'halte!"
Liebe Schwestern und Brüder,
so einfach ist das. Und genau so einfach haben es ja auch viele gemacht: Sie haben "ihr Maul gehalten".
Und wer will es ihnen verdenken. Hätte ich den Mund aufgemacht - und nicht nur hinten herum, sondern offen und den Verantwortlichen voll ins Gesicht? Selbst heute, wo man nicht ins Gefängnis - geschweige denn ins "Irrenhaus" - geworfen wird, wenn man seine Meinung vertritt, selbst heute fällt es ja alles andere als leicht, offen für seine Überzeugung einzutreten.
Viel zu oft wird der Mund gehalten, heute nicht weniger als damals.
Gerade deshalb ist die Gestalt des Heiligen Stephanus, dessen Gedenktag wir heute feiern, für die Gegenwart eine so wichtige Person. Stephanus macht nämlich Mut. Er zeigt auf, dass dort, wo Menschen aufstehen, wenn es um Menschlichkeit geht, um Gerechtigkeit, um Hilfsbereitschaft und den Dienst am anderen, Stephanus zeigt: wenn Menschen dann nicht "das Maul halten", dann steht Gott auf ihrer Seite. Stephanus will all diejenigen stärken, die Gott sei Dank auch heute noch den Mund aufmachen, die den ewig Gestrigen entgegentreten und ihre Stimme erheben.
Dazu braucht es meist gar keine großen Aktionen, keine spektakulären Auftritte. Häufig reicht es schon aus, wenn man im Freundeskreis, in der Familie, am Stammtisch und im Verein einfach nur deutlich macht, dass man anderer Meinung ist als diejenigen, die Parolen dreschen, hetzen und unser Land mit ihrem Hass vergiften wollen.
Häufig braucht es gar nicht viel. Manchmal reicht es sogar schon aus, sich mit anderen zusammenzutun, um deutlich zu machen, dass wir mehr sind: Diejenigen, die für Menschlichkeit stehen, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Toleranz - Gott sei Dank, sie sind immer noch "mehr", es sind immer noch die meisten.
Stephanus macht deutlich, wie wichtig es ist, auch heute genau dafür einzutreten. Und Stephanus macht mir Mut.
Denn wo Menschen dies tun, dort steht für sie auch heute der Himmel weit offen.
Amen.
(gehalten am 26. Dezember 2019 in der Kirche St. Nikolaus, Ettenheim-Altdorf)