Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Die Feier der Osternacht
"Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis!" sagte das kleine Mädchen zu seinem Großvater und nahm ihn bei der Hand. Sanft zog sie ihn mit sich in die Scheune und löste hinter einem Heuhaufen einige Bretter im Boden. Ganz vorsichtig zeigte sie ihm zwei Schneckenhäuser, eine Muschel und einen glitzernden Stein.
"Das ist mein Schatz!" sagte das kleine Mädchen und legte mit großen Augen den Finger auf den Mund. "Pst!" meinte sie und der Großvater nickte ihr völlig gerührt, aber ganz ernsthaft, zu.
Er wusste zwar nicht, was dieser Stein, die Muschel und die Schneckenhäuser bedeuten sollten, aber er wusste, dass seine Enkelin ihm ihr Geheimnis verraten hatte. Und das rührte ihn zutiefst. Sie hatte ihm nämlich ein Geheimnis anvertraut.
Liebe Schwestern und Brüder,
das ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Geheimnis behalte ich normalerweise für mich; das teile ich nur mit den Menschen, die mir wirklich wichtig sind, denen ich vertrauen, wirklich trauen kann. Vertrauen ist bei einem Geheimnis nämlich das Allerwichtigste. Ein Geheimnis braucht jene heimelige Atmosphäre, die schon vom Wort her die Begriffe "Heim" und "geheim" miteinander verbindet.
Unsere deutsche Sprache macht das auf unübertroffene Art und Weise deutlich. Die Begriffe "geheim" und "Heim" gehen nämlich tatsächlich auf das gleiche Wort zurück, ein Wort, das letztlich "Haus", "Wohnort" und "Heimat" bedeutet. "Geheim" ist etwas, was "zum Haus gehörig", was "vertraut ist", denn Heimlichkeiten kann ich nur dort miteinander teilen, wo jene heimelige Atmosphäre des Vertrauens herrscht. Vor allem anderen, vor allem Fremden, vor allen neugierigen Blicken gilt es sie zu verbergen, gilt es das Geheimnis zu wahren. Denn ein Geheimnis braucht eine Umgebung des Vertrauens - unbedingt.
Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben.
Gott hat uns ein Geheimnis anvertraut. Er hat uns an die Hand genommen und einen Blick auf seinen kostbarsten Schatz werfen lassen. Er zeigt uns sein Geheimnis. Er traut uns. Er zählt uns zu den Seinen. Wir gehören zu ihm. Er vertraut uns sein Geheimnis an!
Wenn ich auf das kleine Mädchen mit seinem Großvater schaue, dann beginne ich zu ermessen, was das bedeutet.
Das heißt nicht, dass ich es verstehe, dass ich dieses Geheimnis erklären kann. Nirgendwo hat Gott erklärt, wie das mit der Auferstehung funktioniert. Es gibt nicht einmal einen Bericht darüber. Wir erfahren nur, dass sie geschehen ist - nirgendwo wie. Und wir bekommen darüber hinaus gezeigt, dass auch wir in dieses Geheimnis hineingenommen sind, dass auch wir das Leben haben werden. Wie das aber gehen soll, wird nirgendwo gesagt.
Und es ist auch nicht zu ergründen, denn es handelt sich um ein Geheimnis, nicht um ein Rätsel.
Wäre es ein Rätsel - das Rätsel des Glaubens -, dann gäbe es auch eine Lösung. Dann müssten wir nur genügend nachdenken, knobeln und probieren, nur den richtigen Ansatz finden und wir könnten das Rätsel lösen. Eine Rechen-, eine Denksportaufgabe, ein kniffliges Problem etwa, das hat immer eine Lösung. Und ein Rätsel will gelöst werden.
Ein Geheimnis ist etwas anderes. Geheimnis hat etwas mit Vertrauen, mit Heim, mit Heimat zu tun. Nicht umsonst hat Gotthard Fuchs formuliert: Ein Rätsel verlangt nach einer Lösung, das Geheimnis aber will bewohnt werden.
Ist ein Rätsel erst einmal gelöst, kann ich es getrost zur Seite legen, kann ich stolz auf mich sein, dass ich es durchschaut habe. Ansonsten hat es kaum noch eine Bedeutung für mich. Ein Geheimnis wurde mir anvertraut, um es "zu bewohnen", um aus ihm zu leben. Es wurde mir anvertraut, damit es eine Bedeutung für mein Leben hat.
Dieses Geheimnis des Glaubens muss ich nicht ergründen. So wie es ist, hat es Bedeutung für mein Leben, denn es zeugt vom Vertrauen eines anderen, von einer innigen Beziehung, die ich habe: von meiner ganz persönlichen Beziehung zu Gott.
Ich darf mich ganz einfach, wie jener Großvater, unbändig darüber freuen, dass ich für wert befunden wurde, an diesem Geheimnis teilzuhaben, dass Gott solch ein Vertrauen zu mir hat, dass er mich zu den Seinen zählt.
Und das ist viel mehr als die Lösung eines Rätsels je sein könnte. Es geht nämlich weder um eine Lösung noch um eine Erklärung. Es geht um das Vertrauen, das da einer in mich hat.
Und das kann eine Kraft geben, die mich in den unmöglichsten Situationen bestehen lässt; das kann einen Halt geben, der durch nichts zu erschüttern ist; das kann mir die Gewissheit geben, dass auf jeden Karfreitag ein Ostern folgt.
Da gibt es nichts zu verstehen und da muss ich auch nichts erklären. Da kann ich nur staunend und voller Rührung wie jener Großvater dastehen, der einen Blick auf den Schatz seiner Enkelin werfen darf.
Geheimnis des Glaubens, im Tod ist das Leben.
Gott hat uns sein Geheimnis anvertraut - vielleicht kein Anlass zu unbändigem Jubel - die Jünger selbst waren am Ostermorgen auch eher verhalten. Vielleicht kein Anlass zu überschäumender Ausgelassenheit - viel eher stilles, aber ganz intensives Gerührt sein, eine ganz anrührende ganz innerliche, ganz tief nach innen dringende Freude; jene eigentliche Osterfreude - eine Freude, aus der heraus ich leben kann.
Amen.
(gehalten am 8. April 2007 in der Antonius- und Peterskirche, Bruchsal)