Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Christi Himmelfahrt - Lesejahr A-C
Liebe Schwestern und Brüder,
ich werde das Gefühl nie vergessen.
Ich denke, fast alle von Ihnen sind schon einmal in Freiburg vor dem Münsterturm gestanden. Und viele werden ihn auch schon bestiegen haben.
Ich werde das Gefühl nie vergessen, wie ich das erste Mal auf diesen "schönsten Turm der Christenheit" als Kind mit zitternden Knien hinaufgestiegen bin. Die engen Wendeltreppen und die dünnen gotischen Fialen und vor allem das Nichts, die Abgründe, die sich unmittelbar neben den immer schmaler werden engen Wendeltreppenstufen auftaten und den Blick direkt hinunter auf das Pflaster des Münsterplatzes öffneten, haben sich ganz tief eingegraben.
Und als ich dann oben angelangt war und mit letztem Mut auch noch die Stufen bis zum Turmhelmansatz erklommen habe, blickte ich dann das erste Mal in meinem Leben von so hoch oben auf das Treiben des Wochenmarktes rund um das Münster herab.
Die Menschen sahen wie Ameisen aus und man konnte kaum den einen vom anderen unterscheiden, geschweige denn, dass man erkennen konnte, was sie gerade taten, was für ein Gesicht sie machten, was sie redeten oder gar dachten. Hoch oben vom Turm herab sah alles ganz verändert aus. Man konnte nicht erkennen, ob jemand Grund hatte, sich zu freuen oder zu lachen. Aber man sah genauso wenig, dass jemand weinte oder traurig war.
Von hier aus sah das ganze Treiben einfach nur spaßig aus. Und am spaßigsten waren diejenigen, die am meisten Hektik verbreiteten.
Wenn ich heute über den Münsterplatz in Freiburg eile, dann gehöre ich vermutlich zu denen, die recht spaßig aussehen. Heute habe ich kaum Zeit, von oben herab das Treiben zu beobachten. Heute gehöre ich wohl auch zu denen, die einfach nur Hektik verbreiten.
Vielleicht täte es mir wieder einmal gut, auf den Turm hinaufzusteigen, innezuhalten und von oben auf den Alltag herabzuschauen. Vielleicht würde ich dann entdecken, dass viel von der Hektik, die das Unten prägt, oben seine Bedeutung verliert und vielleicht überhaupt keine Bedeutung hat - auf jeden Fall meist eine ganz andere Wertigkeit hat, als ich sie ihr in meinem ach so geschäftigen Alltag meist beimesse.
Manchmal tut es gut, wieder einmal auf einen Turm zu steigen und von ganz oben herabzuschauen, die Perspektive zu verändern und auf Abstand zu gehen.
Heute steigen wir auf solch einen Turm. Wir feiern Himmelfahrt. Wir steigen sogar noch viel weiter hinauf. Wir begleiten Jesus Christus in Gedanken an einen Ort, der noch viel weiter von unserem Alltag entfernt ist als die Plattform des Freiburger Münsterturmes vom Treiben auf dem Wochenmarkt. Jesus Christus nimmt uns heute mit, und er gibt uns damit wieder einmal die Möglichkeit, aus einer ganz anderen Perspektive auf unseren Alltag zu blicken. Von "ganz oben" unser sonst so hektisches Tun zu betrachten.
Und wenn wir uns darauf einlassen, wenn wir aus seiner Warte unser Leben betrachten, dann geht es mir zumindest meist so wie einem Kind auf dem Münsterturm. Ich stelle unwillkürlich fest, wie klein von oben alles aussieht. All das, was sonst so wichtig erscheint:
Die großen Tiere, vor denen alle sonst in Ehrfurcht erstarren, sind genau so klein, wie die armen Schlucker, die sonst niemand beachtet. Meine großen Ziele, die so viel Energie auffressen, von dort oben erkenne ich sie gar nicht mehr. Das große Glück, von dem ich glaube, dass es mich auf "Wolke Sieben" erhebt, mutet jetzt winzig und klein an. Und all die riesigen Sorgen, die ich vor dem Morgen habe, die sonst wie ein ungeheures Gewicht an mir zerren, sie ähneln fast einem Kieselstein.
Der Himmel, von dem Jesus Christus spricht, ist kein Turm. Er ist auch kein Ort, der irgendwo weit oben wäre. Aber er ist eine Dimension von Leben, die manchmal so weit von unserem Alltag entfernt ist wie der Münsterturm über dem Wochenmarkt schwebt.
Heute ist ein guter Zeitpunkt. Heute nimmt uns Jesus Christus in Gedanken in diese Wirklichkeit unseres Lebens mit. Nutzen wir die Chance, wieder einmal mit großem Abstand auf unseren Alltag zu schauen, auf die Wehwehchen und die vielen Probleme und Problemchen. Und schauen wir sie so an wie von einem Turm.
Alles sieht dann ganz anders aus, verändert; vieles wird plötzlich ganz klein. Aber manches, was hier im Alltag fast unterzugehen droht, ist plötzlich von dort her sogar noch ganz deutlich zu sehen, erscheint plötzlich von weit größerer Bedeutung, als wir sie ihm hier meist beimessen.
Auf Abstand zu gehen, die Dinge mal wieder aus einer gewissen Entfernung zu betrachten, das ändert die Perspektive, es rückt manche schiefen Blickwinkel wieder zurecht und es schärft den Blick für das, was wirklich Bedeutung hat, für das was bleibt.
Nutzen wir diese Chance. Lassen wir uns von Jesus Christus mit ganz nach oben nehmen. Blicken wir wieder einmal mit Abstand auf uns und unser meist so geschäftiges Tun. Und tun wir es, um danach wieder viel fester, viel zuversichtlicher und mit weit größerer Orientierung mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.
Amen.
(gehalten am 8./9. Mai 2002 in der Peters- und Stadtkirche
sowie beim Sancta Maria, Bruchsal)