Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
14. September - Fest Kreuzerhöhung (Joh 3,13-17)
In jener Zeit sprach Jesus zu Nikodemus: Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. (Joh 3,13-17)
Liebe Schwestern und Brüder,
daran hätte Pontius Pilatus mit Sicherheit nicht einmal im Traum gedacht: Dass wir heute hier sitzen, dass wir - Tausende von Kilometern entfernt, zweitausend Jahre nach diesem Ereignis auf Golgotha -, dass wir da immer noch an dieses Kreuz denken, das damals aufgerichtet wurde, das hätte sich damals niemand vorstellen können! Das Zeichen des Kreuzes hat einen Siegeszug durch die Welt angetreten, der seinesgleichen sucht; und es ist heutzutage so weit verbreitet und so alltäglich geworden, dass es oftmals sogar schon beinahe unmöglich ist, all die Darstellungen des Kreuzes, die einem den Tag über so begegnen, überhaupt noch wahrzunehmen.
Ab und zu ist es da ganz gut, wenn einem dann ein Kreuz begegnet, das ein klein wenig aus dem Rahmen fällt, so wie Ihnen das in Breisach am Rhein passieren kann. In der Krypta des dortigen Münsters können Sie eine Kreuzesdarstellung finden, die ganz anders ist, als Sie das normalerweise gewohnt sind. Dieses Kreuz hat jetzt aber nicht deswegen seine außergewöhnliche Form, weil der Künstler sich da etwas Besonderes überlegt hätte. Ursprünglich war es auch ein ganz normales Kruzifix, das frei auf dem Münsterplatz gestanden hat. Seine besondere Form hat es durch den Granatenhagel bekommen, durch den die Stadt Breisach in den letzten Kriegstagen zu 85 % zerstört worden ist. Damals hat dieses Kruzifix beide Arme verloren. So wurde es anschließend in der Krypta aufgehängt, als Mahnmal gegen den Krieg: ein Kruzifix ohne Arme, nur noch der Kopf und der Leib.
Es sind viele Menschen, die dieses Kreuz betrachten. Und so wie es heute da hängt, kann es uns - denke ich - auch eine ganze Menge sagen.
Überlegen Sie nur einmal: Da hängt jetzt Christus ausgerechnet ohne seine Arme, ohne die Hände, mit denen er so viel während seines Lebens getan hat. Denken Sie nur an das Abendmahl. Mit seinen Händen hat er das Brot gebrochen, hat es an seine Jünger ausgeteilt. Denken Sie an die unzähligen Menschen, die durch seine Hände gesund geworden sind, die Taubstummen, Lahmen und Aussätzigen. Erinnern Sie sich an die Hände, die er den Menschen gereicht hat, den Sündern, denjenigen, die nun zu ihm gehören wollten und die er als seine Jünger aufgenommen hat. Was wäre Christus ohne diese Hände gewesen! Mit ihnen hat er den Menschen gezeigt, dass er sie annimmt, mit ihnen hat er geheilt, durch sie Menschen zu essen gegeben, durch sie ist er damals zum Heiland geworden.
Und genau sie sind nun nicht mehr da. Genau sie fehlen nun an diesem Kruzifix. Ich denke, dies genau ist es, was bei der Betrachtung jenes Kreuzes aufgehen kann. Wenn Sie's nämlich genau bedenken, dann werden Sie feststellen: Diese Hände, die fehlen ja nicht nur an dieser Skulptur; die Hände Christi, die fehlen heute ja wirklich!
Christus hat heute ja tatsächlich keine Hände mehr, die so wie damals sichtbar und spürbar wären. Er hat heute keine Arme mehr, die ich jetzt anfassen und sehen könnte. Jesus Christus ist auferstanden, er lebt, aber er lebt nun ganz anders als er das vor zweitausend Jahren getan hat. Und er wirkt deshalb auch ganz anders, ganz anders, als zu der Zeit, in der er als Mensch unter uns war.
Wenn Jesus Christus heute eingreift, dann tut er das nicht mehr mit seinen Händen. Jesus Christus wirkt heute durch Menschen und ganz besonders durch diejenigen, die an ihn glauben. Er wirkt durch seine Kirche und er braucht deswegen auch die Hände seiner Kirche.
Nur, wessen Hände sind das dann? Welche Hände sind gemeint, wenn es um die "Hände seiner Kirche" geht? Wenn man den Medien und der öffentlichen Meinung glauben darf, wenn man dem glauben darf, was auch in unseren Gemeinden immer wieder gesagt wird, dann kann man schon den Anschein gewinnen, als seien da wohl die Hände der Bischöfe und Pfarrer mit gemeint, denn an die denkt man ja wohl, wenn man gemeinhin von der Kirche spricht.
Nur, sind die wirklich die Kirche? Mir wurde das vor einiger Zeit einmal ganz besonders deutlich, als ich von einem Redemptoristenpater hörte, der in einer südamerikanischen Großstadt eine Pfarrgemeinde suchte. Er hat dort an einer Tankstelle gehalten und den Tankwart gefragt: "Entschuldigen Sie bitte, wo ist denn hier die Franziskusgemeinde?" Und er bekam zur Antwort: "Die Franziskusgemeinde? Ach ja, die trifft sich heute Abend in der 50. Straße, Nr. 6!"
Die trifft sich! Sie können ja selbst einmal ausprobieren, was man auf diese Frage wohl bei uns zu hören bekäme. "Die Kirche steht dort oben!" hieße es da wahrscheinlich. Oder etwa: "Das Pfarramt ist dort drüben, aber es ist im Augenblick nicht besetzt!" Wer von uns käme denn heute auf die Idee, dass jemand, der eine Pfarrgemeinde sucht, nicht nur den Pfarrer oder irgendwelche Hauptamtlichen sehen möchte! Wer von uns denkt denn da daran, dass unsere Pfarrgemeinden, dass unsere Kirche nicht aus einem Amt und noch viel weniger aus einem Gebäude, dass unsere Kirche aus Menschen besteht!
Kirche, das sind wir! Und denken wir daran, wenn wir wieder einmal über sie schimpfen! Unsere Kirche und die Pfarrgemeinden, die werden erst dann wirklich lebendig werden, wenn wir alle damit beginnen, das, wofür Jesus Christus gelebt, was er gelehrt und was er getan hat, wenn jeder von uns damit beginnt, Christi Sache zu seiner eigenen Sache zu machen, wenn wir damit anfangen, ihn durch unsere Hände wirken zu lassen. Auf uns nämlich, auf jeden einzelnen von Ihnen kommt es an!
Eine ganze Reihe von Menschen hat dies bereits entdeckt. Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz dazu stehen, dass sie Christen sind und anderen die christlichen Werte vorleben. Menschen, die als Ehepartner versuchen, gemeinsam aus ihrem Glauben zu leben und nicht alles bei den ersten Schwierigkeiten gleich hinzuwerfen, weil sie sich dem Wort Jesu verpflichtet wissen. Jugendliche, die in der Jugendarbeit oder als Ministrant zum Ausdruck bringen, dass sie sich für Jesus Christus einzusetzen bereit sind. Männer und Frauen, die bei ihren kranken Angehörigen oder in der Nachbarschaft im Sinne Jesu Christi anpacken, wo es nötig ist. Menschen, die nicht sagen, was andere noch alles tun müssten, sondern die selber tun, die Jesus Christus ihre Hände leihen, durch die er selbst wirken kann.
Ich wünsche Ihnen und mir an diesem Festtag, dass wir immer mehr zu solchen Menschen werden. Ich wünsche uns allen, dass wir immer stärker spüren, dass Jesus Christus jeden Einzelnen von uns braucht. Denn:
Christus hat keine Hände,
nur unsere Hände,
um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße,
nur unsere Füße,
um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen,
nur unsere Lippen,
um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe,
nur unsere Hilfe,
um Menschen an seine Seite zu bringen.
Wir sind die einzige Bibel,
die die Öffentlichkeit noch liest.
Wir sind Gottes letzte Botschaft,
in Taten und Worten geschrieben.
Amen.
(gehalten am 18. September 1988 in der Hl. Kreuz-Kirche, Ettenheim-Münchweier)