Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Zur Glockenweihe
Es begab sich aber zu der Zeit, als unsere Glocken wieder einmal in Rom waren. Denn einmal im Jahr - so weiß es schließlich jedes Kind - nach dem Glorialäuten am Gründonnerstag bis zum Gloria in der Osternacht , jedes Jahr, in dieser Zeit fliegen die Glocken, nach Rom. In diesen Tagen ist es still auf unseren Kirchtürmen. Die Glocken schweigen wegen der Grabesruhe des Karfreitages. Nach Rom sind sie dann geflogen und kommen erst zur Osternacht wieder zurück - so weiß es schließlich jedes Kind.
Es begab sich also zu der Zeit, als alle Glocken wieder einmal in Rom waren. Da hatten sich in einer Seitenstrasse unweit des Petersplatzes die Bruchsaler Glocken zu einer Krisensitzung verabredetet. Es gab nämlich beunruhigende Neuigkeiten: Die beiden kleinsten Glocken hatten beschlossen, nicht nach Bruchsal zurückzukehren. Sie waren offensichtlich durch nichts dazu bewegen, Rom wieder zu verlassen. Und sie versuchten nun sogar, auch die anderen Glocken vom Bleiben zu überzeugen.
"Keine zehn Pferde bringen mich wieder nach Bruchsal zurück!" erklärte die kleinste der Glocken. "Was sollen wir dort? Die Zeiten, in denen wir willkommen waren und sich die Menschen freuten, wenn wir läuteten, die sind längst vorbei. Die einen hören uns nicht, weil wir im Gedröhn der Straßen doch schon gar nicht mehr wahrgenommen werden, die anderen brauchen uns nicht, weil sie ihrer Armbanduhr weit mehr vertrauen, als irgendwelchen Kirchturmuhren, und die dritten ärgern sich nur über uns, weil sie nicht ausschlafen können und wir ihnen durch unser Geläut regelmäßig den Sonntagmorgen verderben würden.
Und selbst viele der Kirchgänger wissen doch schon gar nicht mehr, warum wir uns eigentlich jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend mehrere Minuten lang abstrampeln. Wer denkt denn noch daran, dass unser Geläut zum Gebet einladen möchte?
Ja, wenn wir jetzt erwarten würden, dass man tatsächlich den "Engel des Herrn" betet!" sagte die kleine Glocke und seufzte ganz tief. "Das könnte ich ja noch verstehen, dass das kein Gebet mehr für alle ist. Doch als ob es uns um ein bestimmtes Gebet ginge. Irgendein Gebet könnten die Menschen doch sprechen, oder zumindest einmal kurz an Gott denken. Aber ich läute mir die Bronze aus dem Leib und komme mir dabei jeden Tag nutzloser vor."
"Ach ja," seufzte eine der größeren Glocken, "wenn ich da an früher denke. Früher, wenn wir zu den Gottesdiensten geläutet haben, da gingen in einer Straße fast gleichzeitig die Türen auf und die Menschen folgten unserem Ruf. Und heute...
Die, die kommen, die kämen auch, wenn wir nicht läuten würden. Wegen unseres Geläutes kommt doch wirklich nicht ein einziger mehr zu den Gottesdiensten. Ich glaube die kleinen Glocken haben recht. Was sollen wir da eigentlich noch! Da können wir auch gleich hier bleiben!"
Und je länger die Glocken miteinander sprachen, desto mehr Glocken stimmten ihnen zu. Denn, das wussten sie: auch Glocken bekommen Depressionen, wenn sie nur noch zum Beerdigungsläuten wohl gelitten sind.
So schlug die Stimmung unter den Bruchsaler Glocken langsam um und auch die großen Glocken beschlossen, nicht nach Bruchsal zurückzukehren. Und just, als sie sich einig geworden waren und dabei so richtig fröhlich darauf los läuteten, wachte ich auf und der Alptraum war vorüber.
Ich lag in meinem Bett und wartete, bis unsere Glocken zu läuten begannen, damit ich auch ganz sicher sein konnte, dass es tatsächlich nur ein Traum gewesen war.
Liebe Schwestern und Brüder,
unsere Glocken haben nämlich nicht recht! Der Eindruck täuscht! Es stimmt nicht, dass sie uns nichts bedeuten würden und das sie eigentlich schon beinahe unerwünscht wären. Der heutige Tag beweist das Gegenteil.
Wir haben viel investiert, um unser Geläut zu sanieren und diese neue Glocke zu schaffen. Und wir haben dies getan, weil wir uns über die Bedeutung unserer Glocken im Klaren sind.
Glocken sind uns wichtig. Sie begleiten unser Leben. Bei so vielen freudigen Ereignissen läuten unsere Glocken. Angefangen von der Taufe, jedem Jahreswechsel, Erstkommunion, Firmung und Hochzeit... Und wenn jemand aus unseren Reihen von uns geht, begleiten sie seinen Abschied.
Sie begleiten aber nicht nur! Viel wichtiger scheint mir zu sein, dass sie erinnern. Und manchmal mahnen sie uns sogar. Glocken sind wichtige Zeichen, die uns helfen wollen, nicht zu vergessen - Und allem voran: Gott nicht zu vergessen!
Gerade wenn der Lärm des Alltags den Ruf Gottes überdröhnt, gerade dann braucht es unsere Glocken, Signale, die helfen wollen, diesem stillen Anruf in unseren Herzen wieder deutlicher Gehör zu verschaffen. Solche mahnenden Klänge braucht es heute vielleicht sogar mehr, als zu anderen Zeiten.
Nur sind Mahnungen natürlich etwas Unbequemes. Wer erhält schon gerne eine Mahnung.
Das mögen die Glocken aus der kleinen Geschichte vom Anfang ganz richtig gespürt haben. Wer Ermahnungen ausspricht ist nicht unbedingt beliebt. Der geht uns manchmal sogar ganz gewaltig auf die Nerven.
Das ist zwar unbequem, aber es ist nichtsdestoweniger ungeheuer wichtig! Gott sei Dank nerven uns die Glocken. Gott sei Dank erinnern sie uns. Und glücklicherweise haben Sie ja auch das ein oder andere Mal Erfolg.
Das ist gut so - nicht für unsere Glocken, die haben da nichts davon. Nur in Geschichten sehnen sich Glocken danach, dass Menschen ihrem Ruf folgen. In der Wirklichkeit geht es nicht um unsere Glocken. Es geht um uns!
Wenn wir dem Ruf der Glocken folgen, dann nicht wegen der Glocken, ja nicht einmal wegen Gott: Es ist einzig und allein unseretwegen. Denn es ist gut für uns! Den größten Gefallen tun wir uns nämlich selber.
Wenn wir uns an Gott erinnern, wenn wir uns neu auf ihn ausrichten, wenn wir unserem Leben dadurch neue Orientierung geben und uns vor Augen führen, dass wir diesen Gott und seine Führung brauchen, dann haben wir nämlich am meisten davon!
Aber selbst da, wo unsere Glocken augenscheinlich keinen Erfolg mehr haben, wo ihr Geläute offensichtlich ins Leere läuft, selbst da ist es nicht umsonst. Auch dort erfüllen unsere Glocken nämlich eine ganz große Aufgabe. Dort verkünden sie nämlich.
In einer Welt, die mit uns und unserem Glauben mehrheitlich immer weniger anzufangen weiß, in solch einer Welt signalisieren die Glocken und ihr Geläut: Wir sind immer noch da! Und wir werden auch, so unbequem Christen und christliches Denken in einer immer stärker und immer einseitiger auf Profit ausgerichteten Gesellschaft auch sein mögen, wir werden auch nicht so schnell von der Bildfläche verschwinden.
Solange unsere Glocken läuten -, solange ganz sicher - wird man mit uns rechnen müssen.
Amen.
(gehalten am 16. April 2001 in der Pauluskirche, Bruchsal)