Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Erntedanksonntag
Liebe Schwestern und Brüder,
vor einiger Zeit ist mir mitten in einem Geschäft eine Mutter aufgefallen. Sie war dort beim Einkaufen zusammen mit ihrem Kind; und plötzlich - ich hab‘ es ganz deutlich gehört - plötzlich hat diese Mutter damit begonnen, in aller Öffentlichkeit ihrem Kind beizubringen, wie man betet!
Ich habe es ganz deutlich gehört: Da steht diese Mutter mit dem Kind an der Kasse und hat bezahlt. Und da beugt sich die Verkäuferin plötzlich herunter und gibt der Kleinen noch einen Lutscher extra - dann war einen Augenblick lang alles still; bis die Mutter anfing und ganz eindringlich mahnte: "Na, du! Wie sagt man?"
Haben Sie es bemerkt? Da steht diese Mutter nun mitten in einem Geschäft und fängt an, ihrem Kind beizubringen, wie man betet. Ihnen ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen? Nun, wahrscheinlich hat die Mutter selbst nicht einmal gemerkt, dass sie da etwas Besonderes getan haben soll. Aber überlegen Sie 'mal! Was ist da an der Kasse in diesem Geschäft jetzt eigentlich passiert?!
"Du! Wie sagt man?" "Danke!" antwortete das Kind.
Ganz unmissverständlich hat die Mutter das Kleine dazu aufgefordert, "Danke" zu sagen. Sie hat ihm zu verstehen gegeben, dass das jetzt nichts Normales war, was da gerade eben passiert ist. "Du, du hast jetzt etwas bekommen, du kannst nicht so tun, als wenn das selbstverständlich wäre. Bilde dir ja nicht ein, als ob du das verdient hättest.
Du! Wie sagt man?" "Danke!" antwortete das Kind.
Ohne es vielleicht zu wissen, hat die Mutter damit begonnen, dem Kind beizubringen, wie man betet. Sicher, sie hat es nur gelehrt, "Danke" zu sagen; aber "Danke"-Sagen, das ist der Anfang vom Beten!
Wer dankt, der denkt nämlich daran, dass ich vieles ganz einfach bekomme, ohne dass ich auch nur im Geringsten etwas dafür könnte. Wer dankt, der denkt daran, dass kaum etwas selbstverständlich ist - angefangen von Menschen, die mir begegnen und mir wichtig sind, über Talente und Fähigkeiten bis hin zu der Tatsache, dass ich überhaupt auf der Welt bin. Danken heißt, daran denken, dass ich ungeheuer viel erhalte, ohne es eigentlich verdient zu haben. Und daran denken, dass es jemanden gibt, von dem ich all dies bekomme und der all dies für mich tut. Und im Letzten heißt das, daran denken, dass es einen Gott gibt, der für mich sorgt. Und dieses Danken, das ist der Anfang vom Beten.
Wer das nie gelernt hat, wer nie gelernt hat, "Danke" zu sagen, der wird schwerlich in der Lage sein, überhaupt beten zu können! Wer immer nur nach der Parole lebt: "Mir hat noch nie jemand helfen müssen! Und etwas geschenkt bekommt man auf dieser Welt sowieso nicht!", wer sein Leben nach diesem Motto ausrichtet, woher soll der das Vertrauen nehmen, das Vertrauen in einen Gott, der mir beisteht, der mein Leben begleitet und mich unverdientermaßen zum Ziel führt. Wer nicht gelernt hat zu danken, wer nicht gelernt hat, daran zu denken, dass es einen Gott gibt, der es gut mit mir meint, wie soll der zum Beten kommen? Denn "Danke"-Sagen, das ist der Anfang vom Beten!
Nur, besonders leicht scheint einem dieses "Danke" ja nicht von der Hand zu gehen - das geht anscheinend nicht nur Kindern so, die einen Lutscher bekommen. Wenn alles wieder einmal so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben, wenn der Sonntagsbraten gelingt, wie er besser nicht sein könnte, wenn mir die Arbeit locker von der Hand geht und das Privatleben nichts zu wünschen übrig lässt, dann klopfen wir uns alle zunächst einmal - denke ich - ganz gerne auf die eigene Schulter - und ich weiß von mir am besten, wie schnell dann oft vergessen ist, dass so vieles zum Gelingen beigetragen hat, für das ich nichts kann, für das ich nur danken kann.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht; ich vermisse da manches Mal jemanden, der dann, wie diese Mutter in jenem Geschäft, hinter mir steht, der mich dann daran erinnert, "Danke" zu sagen. Gerade deshalb ist für mich der Erntedanktag so wichtig; denn Erntedank, das ist ja nicht nur das große Fest für die Landwirte, die in diesen Wochen ihre Ernte einbringen. Für mich ist dieser Tag darüber hinaus wie die Mutter in diesem Geschäft, ein Tag, der uns zuruft: "Na du! Wie sagt man?" Erntedank möchte darauf aufmerksam machen, an all die Dinge zu denken, die wir in den vergangenen Monaten geschenkt bekommen haben. Erntedank will darauf aufmerksam machen, an all das zu denken, was Gott für uns Gutes getan hat und immer wieder aufs Neue für uns tut! Daran zu denken - und dafür zu danken. Denn "Danke"-Sagen, das ist der Anfang vom Beten.
"Du! Wie sagt man?" - "Danke!" antwortete das Kind.
Amen.
(gehalten am 4./5. Oktober 1997 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)