Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


2. November - Allerseelen (Totengedenken) (Ps 73,1-28)

Lauter Güte ist Gott für Israel, für alle Menschen mit reinem Herzen. Ich aber - fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen. Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging. Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt. Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen. Darum ist Hochmut ihr Halsschmuck, wie ein Gewand umhüllt sie Gewalttat. Sie sehen kaum aus den Augen vor Fett, ihr Herz läuft über von bösen Plänen. Sie höhnen, und was sie sagen, ist schlecht; sie sind falsch und reden von oben herab. Sie reißen ihr Maul bis zum Himmel auf und lassen auf Erden ihrer Zunge freien Lauf. Darum wendet sich das Volk ihnen zu und schlürft ihre Worte in vollen Zügen. Sie sagen: "Wie sollte Gott das merken? Wie kann der Höchste das wissen?" Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum. Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld. Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt. Hätte ich gesagt: "Ich will reden wie sie", dann hätte ich an deinen Kindern Verrat geübt. Da sann ich nach, um das zu begreifen; es war eine Qual für mich, bis ich dann eintrat ins Heiligtum Gottes und begriff, wie sie enden. Ja, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund, du stürzt sie in Täuschung und Trug. Sie werden plötzlich zunichte, werden dahingerafft und nehmen ein schreckliches Ende, wie ein Traum, der beim Erwachen verblasst, dessen Bild man vergisst, wenn man aufsteht. Mein Herz war verbittert, mir bohrte der Schmerz in den Nieren; ich war töricht und ohne Verstand, war wie ein Stück Vieh vor dir. Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit. Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde. Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig. Ja, wer dir fern ist, geht zugrunde; du vernichtest alle, die dich treulos verlassen. Ich aber - Gott nahe zu sein ist mein Glück. Ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen. Ich will all deine Taten verkünden. (Ps 73,1-28)

Und was, wenn jetzt alles bloß Illusion wäre? Das Leben nach dem Tod - einfach ein Wunschtraum der Menschheit von alters her, eine Vorstellung, die von einer Kultur an die andere weitergegeben wurde, aber ein Traum eben, ohne jeglichen Rückhalt in der Realität.

Liebe Schwestern und Brüder,

so wird es von Kritikern ja immer wieder behauptet: Die Bibel hätte all ihre Jenseitsvorstellungen eben in Ägypten kennengelernt und den Glauben an ein Leben nach dem Tod einfach von den Ägyptern importiert - wie ein Märchen, das eben von einer Generation auf die andere - von einer Kultur an die andere - weitergegeben wird.

Und das Neue Testament garniert das Ganze dann noch mit der griechischen Vorstellung von der ewigen Seele und schon ist der Glaube an ein Leben nach dem Tod komplett.

Unser biblischer Glaube, einfach ein Konstrukt aus ägyptischen und griechischen Versatzstücken, ein uralter Menschheitstraum - ein Traum, aber nichts anderes eben als ein Traum!?

Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.

Wer genau hinsieht, der entdeckt, dass Israel kaum etwas importiert hat. Es ist ja nicht so, dass man in Israel einfach nacherzählte, was man andernorts vorgesagt hat. Es hat lange gedauert - sehr lange -, bis sich in Israel der Glaube an ein Leben auch über den Tod hinaus Bahn gebrochen hat.

Die ägyptischen Vorstellungen kannte man. Man hätte sie einfach übernehmen können, aber man tat es nicht - jahrhundertelang tat man es nicht.

Und genauso wenig hat man einfach von den Griechen übernommen, was die über die unsterbliche Seele philosophierten. Auch das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Von den Griechen hat man da gar nichts übernommen. Sie werden die Vorstellung von einer ewig lebenden Seele, wie sie im griechischen Raum geprägt wurde, in der ganzen Bibel nicht finden. Es gibt in unserem Glauben keinen Platz für diese Vorstellung. Es gibt bei uns keine Seele, die schon seit jeher ewig war und einfach aus sich heraus ewig bleibt.

Das wäre ja so etwas wie ein Automatismus des Lebens. Den gibt es in der Bibel nicht. Für die Menschen der Bibel lebt alles, was lebt, einzig und allein deshalb, weil Gott dieses Leben in seiner Hand hält, weil Gott das Leben trägt. Die Bibel kennt keine Seele, die keinen Anfang hat und gleichsam aus sich heraus leben würde.

Deshalb lebe ich, weil ich von Gott ins Dasein gerufen wurde, weil er mich hält und weil ich jeden Tag aufs Neue von ihm getragen bin. Gott ist der Grund meines Lebens, von Gott her muss ich mein Leben verstehen.

Und im Nachsinnen über Gott, im immer tieferen Verstehen seines Wesens - nicht im Import von anderen Kulturen, sondern in der tieferen Einsicht in Gottes Wesen -, darin wurzelt der biblische Glaube an ein Leben, selbst durch den Tod hindurch.

Es ist letztlich der Gottesname, der den Ausschlag gibt. Wenn Gott von sich sagt, dass er der ist, der für mich da ist, wann, wo und wie es auch sei, dann wächst in Israel ganz langsam - über viele Jahrhunderte hinweg - die Einsicht, dass der Gott, der so etwas über sein Verhältnis zu mir sagt, dass dieser Gott mich dann auch im Tode unmöglich fallen lassen kann.

Der Beter des 73. Psalmes ist einer der ersten, der diese Überzeugung zum Ausdruck bringt:

"Ich bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten.
Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit.
Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten,
Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig."

Ich bleibe immer bei dir, du bist mein Fels, auf dich bin ich gegründet auf ewig. Das ist die Glaubensüberzeugung, die sich in Israel nach und nach Bahn bricht.

Das Leben nach dem Tod, so wie wir es glauben, ist nichts anderes, als die letzte Konsequenz aus dem Glauben an den Gott, der sich in der Bibel offenbart: an den Gott, der uns verheißen hat, dass er für uns da ist, wann immer es auch sei. Wenn ich seiner Verheißung trauen kann, dann darf ich auch darauf bauen, dass mich dieser Gott auch im Tod nicht einfach fallen lässt.

Der Glaube an das Leben, selbst durch den Tod hindurch, ist so stark mit dem Gottesbild der Bibel verwoben, dass dieses Leben über den Tod hinaus aus unserem Glauben gar nicht mehr wegzudenken ist. Wäre das Leben, das Gott mir auf ewig gewährt, eine Illusion, dann wäre unser ganzer Glaube, dann wäre der Gott der Bibel am Ende eine Fiktion, denn er wäre dann nicht Jahwe, nicht der, der für mich da ist, wann immer es auch sei.

Ich brauche deshalb gar nicht zu fragen, ob das Leben nach dem Tod nur ein Wunschtraum ist oder wirklich eine Realität. Ich brauche nur danach zu fragen, ob Gott Wirklichkeit ist, ob ich auf ihn wirklich bauen kann.

Für ihn gibt es selbstverständlich genauso wenig Beweise wie für das Leben nach dem Tod.
Es gibt selbstredend keinen naturwissenschaftlich griffigen Beleg.

Aber anders als beim Leben, das noch vor mir liegt, gibt es für Gottes Existenz Spuren, es gibt Spuren in meinem Leben, die ich nur zu deuten lernen muss - weit mehr Begebenheiten, als man mit Zufällen erklären kann. Und mit jeder Spur, mit jedem Zeichen, das mir Gottes Gegenwart deutlich macht, wird der Überzeugung Nahrung gegeben, dass es ihn gibt.

Und wenn es Gott gibt, wenn er Jahwe ist, dann lässt er mich im Tod auch nicht fallen, dann gibt es auch das Leben, dann greift der Glaube, den der Beter des 73. Psalmes so unübertrefflich auf den Punkt gebracht hat:

"Ich bleibe immer bei dir,
du hältst mich an meiner Rechten.
Du leitest mich nach deinem Ratschluss
und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit.
Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten,
Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig.
Gott nahe zu sein ist mein Glück.
Ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen."

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 1. November 2002 in der Peterskirche, Bruchsal)