Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


27. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 21,33-44 mit Jes 5,1-7)

Ich will ein Lied singen von meinem geliebten Freund, ein Lied vom Weinberg meines Liebsten. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fruchtbaren Höhe. Er grub ihn um und entfernte die Steine und bepflanzte ihn mit den edelsten Reben. Er baute mitten darin einen Turm und hieb eine Kelter darin aus. Dann hoffte er, dass der Weinberg süße Trauben brächte, doch er brachte nur saure Beeren. Nun sprecht das Urteil, Jerusalems Bürger und ihr Männer von Juda, im Streit zwischen mir und dem Weinberg! Was konnte ich noch für meinen Weinberg tun, das ich nicht für ihn tat? Warum hoffte ich denn auf süße Trauben? Warum brachte er nur saure Beeren? Jetzt aber will ich euch kundtun, was ich mit meinem Weinberg mache: Ich entferne seine schützende Hecke; so wird er zur Weide. Seine Mauer reiße ich ein; dann wird er zertrampelt. Zu Ödland will ich ihn machen. Man soll seine Reben nicht schneiden und soll ihn nicht hacken; Dornen und Disteln werden dort wuchern. Ich verbiete den Wolken, ihm Regen zu spenden. Ja, der Weinberg des Herrn der Heere ist das Haus Israel, und die Männer von Juda sind die Reben, die er zu seiner Freude gepflanzt hat. Er hoffte auf Rechtsspruch - doch siehe da: Rechtsbruch, und auf Gerechtigkeit - doch siehe da: Der Rechtlose schreit. (Jes 5,1-7)

In jener Zeit sprach Jesus zu den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes: Hört noch ein anderes Gleichnis: Es war ein Gutsbesitzer, der legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer und reiste in ein anderes Land. Als nun die Erntezeit kam, schickte er seine Knechte zu den Winzern, um seinen Anteil an den Früchten holen zu lassen. Die Winzer aber packten seine Knechte; den einen prügelten sie, den andern brachten sie um, einen dritten steinigten sie. Darauf schickte er andere Knechte, mehr als das erste Mal; mit ihnen machten sie es genauso. Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen; denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben. Als die Winzer den Sohn sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, damit wir seinen Besitz erben. Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und brachten ihn um. Wenn nun der Besitzer des Weinbergs kommt: Was wird er mit solchen Winzern tun? Sie sagten zu ihm: Er wird diesen bösen Menschen ein böses Ende bereiten und den Weinberg an andere Winzer verpachten, die ihm die Früchte abliefern, wenn es Zeit dafür ist. Und Jesus sagte zu ihnen: Habt ihr nie in der Schrift gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden; das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder? Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen. Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt. (Mt 21,33-44)

Kluge Kinder freuen sich nicht!

Wenn die Schwester eine Standpauke erhält, weil sie erwischt wurde, dann kommt Schadenfreude selten gut. Vor allem, wenn nicht nur sie von den Süßigkeiten in der Vorratskammer genascht hat. Da sollte man sich dann ganz schön zurückhalten. Wer weiß, wann einen selbst das nächste Strafgericht ereilt.

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man selbst nicht davor gefeit ist, in ähnliche Situationen zu geraten, dann ist es zumindest klug, ganz schön still zu sein.

Ganz besonders peinlich aber ist es, entrüstet über die Untat der anderen, den Kopf zu schütteln, in der festen Überzeugung, dass man selbst unmöglich in solch eine furchtbare Situation geraten könnte, um dann nur wenig später bei ganz ähnlichem Fehlverhalten ertappt zu werden.

Das ist peinlich, aber nichtsdestoweniger weit verbreitet. Dass sich Menschen über andere erheben, mit Fingern auf sie zeigen, den Kopf schütteln und ihr absolutes Unverständnis äußern, dann aber wenig später nicht weniger begossen dastehen, das ist weit verbreitet - auch und gerade unter Christen.

Und das heutige Evangelium offenbart dies sehr deutlich.

Da hatte die Christenheit den Sinn des Gleichnisses, das Jesus hier erzählt, doch ganz schnell begriffen: Gottes Volk hatte Schuld auf sich geladen, sie hatten die Propheten verfolgt, den Messias nicht erkannt und am Ende sogar getötet. Der Weinberg wird ihnen genommen werden und anderen gegeben, die ihre Frucht bringen.

Voller Stolz und voller Freude wurde dieses Gleichnis weitererzählt. Es wurde aufgeschrieben im Bewusstsein, dass sich das Wort Jesu auf dramatische Weise als wahr erwiesen hat. Die Juden hätten Ihr Recht, alleiniges Volk Gottes zu sein, verwirkt. Der Weinberg ist anderen Pächtern gegeben worden, denn die Christen haben sich ja als wahres Gottesvolk erwiesen.

Dies war über Jahrhunderte hinweg der Grund dafür, auf das Judentum herabzuschauen, Juden zu beargwöhnen und wie Aussätzige zu behandeln - mit all den furchtbaren Konsequenzen, die man in gar nicht mal so weit entfernter Vergangenheit erleben musste.

Wie konnte man vergessen, dass man die Bibel nicht einfach wie ein Geschichtsbuch lesen darf? Wie konnte man übersehen, dass hier nicht Berichte über eine längst vergangene Zeit niedergeschrieben sind? Wie konnte man vergessen, dass die Bibel jedem ihrer Leser immer wieder neu den Spiegel vorhält und dass sie uns meint - uns und unsere Gegenwart! Bilden wir uns denn wirklich ein, dass Jesus uns heute etwas anderes sagen, dass er über uns nicht ein ganz ähnliches Urteil sprechen würde?

Wurden und werden nicht auch bei uns diejenigen, die die Finger in die Wunde legen, mundtot gemacht und zum Schweigen gebracht? Sind wir wirklich diejenigen, die die erwarteten Früchte bringen?

Glaube ist doch keine Lehre, die man wie ein Buch in ein Regal stellen könnte und dann auf alle Ewigkeit besitzen würde. Glaube muss sich im Leben erweisen und dort entfalten.

Und was Gott da erwartet, das sehen wir nicht nur im Weinberglied des Propheten Jesaja, das dem heutigen Evangelium an die Seite gestellt ist: Rechtsspruch und Gerechtigkeit sind die Früchte, die Gottes Erwartung entsprechen: Ein Einsatz für Gerechtigkeit auf der Seite derer, die am Rande der Gesellschaft stehen, auf der Seite der Ausgegrenzten und Geschlagenen, ein Eintreten für Barmherzigkeit und Menschlichkeit.

Mit einer Verinnerlichung von Religion ist es nicht getan. Ein Glaube, der in noch so schönen Gottesdiensten gefeiert wird, aber keine Veränderung in der Welt bewirkt, keine Auswirkungen im Alltag hat, hat mit den Früchten, die Gott erwartet, wenig zu tun. Wo ein Rückzug - Rückzug aus der Welt in der wir leben - gepredigt wird, dort gehen wir am Evangelium vorbei.

Wie sagte Jesaja: Der Herr hoffte auf Rechtsspruch - doch siehe da: Rechtsbruch, und auf Gerechtigkeit - doch siehe da: Der Rechtlose schreit.

Diese Worte müssen in unseren Ohren klingeln. Und sie müssten bewirken, dass wir angesichts des heutigen Evangeliums sehr still werden.

Keinen Grund haben wir, uns über das Urteil, das der Herr des Weinberges heute spricht, zu freuen, keinen Grund, überheblich auf die, die es damals traf, herabzusehen. Der Schuss könnte ganz schnell nach hinten los gehen, denn ob wir als Kirche wirklich die Früchte bringen, die der Herr von seinem Volk erwartet ...

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 1./2. Oktober 2011 in der Peters-, Paulus- und Antoniuskirche, Bruchsal)