Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


22. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Jer 20,7-9)

Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. Ja, sooft ich rede, muss ich schreien, "Gewalt und Unterdrückung!" muss ich rufen. Denn das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Spott und Hohn. Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Innern. Ich quälte mich, es auszuhalten, und konnte nicht. (Jer 20,7-9)

Liebe Schwestern und Brüder,

für mich ist das einer der beeindruckendsten Texte der ganzen Bibel - und einer der bedrückendsten zugleich.

Nein, nicht das heutige Evangelium. Ich meine den Text der ersten Lesung, jener Abschnitt aus den "Confessiones" des Jeremia. Im Jeremiabuch verstreut finden sich mehrere solcher schon fast autobiographischer Abschnitte, bei denen die Forschung davon ausgeht, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich auf den Propheten selbst zurückgehen.

Der Abschnitt, den Sie eben gehört haben, stammt aus der letzten Zeit des öffentlichen Wirkens des Propheten. Und was er hier sagt, ist dermaßen bedrückend:

"Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören."

Das ist Jeremias Fazit nach einem langen Prophetenwirken. Er, der Priestersohn, der nie Prophet werden wollte, wurde von Gott geradezu dazu genötigt, öffentlich aufzutreten. Er, der immer von der Liebe Gottes künden wollte, musste seinem Volk ins Gewissen reden und letztlich den Untergang androhen.

Selbst seine eigene Familie hat ihn dafür gehasst. Gehört hat kaum jemand auf ihn.

Die Babylonier haben - so hat er es gedeutet - Gottes Strafgericht an seinem Volk vollzogen und Jerusalem in Schutt und Asche gelegt. Die Oberschicht wurde deportiert. Und selbst als diejenigen, an denen die Deportation vorübergegangen war, zu jubilieren begannen - sie hatten es ja überstanden - musste Jeremia, der im zerstörten Jerusalem verblieben war, ihnen verkünden, dass Gottes Verheißung nicht auf den im Land Verbliebenen ruhte, dass Gottes Verheißung vielmehr mit den Deportierten war.

Als man sich dann gegen die Besatzungstruppen auflehnte, musste Jeremia davor warnen und deutlich machen, dass Gott mit den Besatzern sei. Aber auch da hörte man nicht auf ihn. Man tötete den Statthalter und floh vor der Rache der Babylonier nach Ägypten. Die Warnung Jeremias, auf jeden Fall in Israel zu bleiben, wurde wiederum ignoriert. Sie zwangen ihn, mit nach Ägypten zu gehen. Dort werde man untergehen, hat er verheißen. Das ist das letzte, was man von ihm weiß.

"Du hast mich betört, Herr, und ich ließ mich betören."

Der Alttestamentler Ernst Haag hat das Wirken des Jeremia mit den Worten überschrieben: "Solidarität mit einem Volk ohne Zukunft und Hoffnung!" Für mich eine der beeindruckendsten Gestalten der ganzen Bibel.

Was hätte dieser Prophet wohl heute alles zu sagen? Würde es ihm heute anders ergehen? Wäre ihm erlaubt, von der Liebe Gottes und seiner Güte zu künden oder müsste er auch uns einen Spiegel vorhalten?

Würde er den Papst etwa kritisieren? Wer weiß, vielleicht müsste er ihm vorhalten, dass er nur unklare Andeutungen mache und lediglich Spielräume eröffne, wo doch jetzt endlich klare Ansagen vonnöten wären und so mancher der Verantwortlichen am Ende einen Tritt in den Hintern bräuchte?

Dürfte er dazu schweigen, wenn Bischöfe die Möglichkeiten, die ihnen neu eröffnet wurden, nicht nutzen, um Neues zu wagen, sondern ängstlich am Althergebrachten festhalten?

Was würde er unseren Gemeinden ins Gesicht schleudern, die so sehr mit sich selbst beschäftig sind, mit Strukturdebatten und Raumkonzepten, die sich vielfach mit frommen Besinnungen und Kaffeenachmittagen so betäuben, dass sie kaum noch einen Blick über den Tellerrand hinaus zu tun in der Lage sind?

Und was müsste er unserer Gesellschaft als Ganzes sagen? Einer Gesellschaft, die so oft ihre christlichen Wurzeln betont, aber mit ihrer Politik immer offener und unverhohlener das Leid von Millionen von Menschen, wenn nicht gar verursacht, so doch auf jeden Fall billigend in Kauf nimmt.

Würde das, was er uns zu sagen hätte, am Ende sogar ganz ähnlich klingen, wie der Kommentar von Georg Restle vom Westdeutschen Rundfunk zu Beginn der vergangenen Woche? Sie erinnern sich vermutlich: In Paris saß man ja beim Flüchtlingsgipfel zusammen, um - wie man sagte - die Krise zu lösen. Und in den Sonntagsreden heißt das ja immer, die Fluchtursachen zu bekämpfen und dem darbenden Kontinent nachhaltig zu helfen.

Aber wie hat Georg Restle in seinem Kommentar dazu gesagt: "Ich gebe zu: Ich schäme mich!" Die Flüchtlingspolitik, die in Paris verhandelt wurde, sei eine Schande für dieses Land und für diesen Kontinent. Und weiter meinte er: "Es ist eine Schande, dass auch die Bundesregierung es offensichtlich billigt, dass libysche Milizen Flüchtlinge in Langer verfrachten, wo sie weiterhin misshandelt, gefoltert und vergewaltigt werden." Und:
"Es ist eine Schande, dass Deutschland und Frankreich jetzt Waffen liefern wollen, ausgerechnet an afrikanische Diktaturen wie den Tschad, dessen Armee schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Und ja, es ist eine Schande, dass Europa seine Außengrenze jetzt mitten durch Afrika ziehen will. Ein Bollwerk gegen Flüchtlinge, bewacht von Regimen, die mit europäischen Grundwerten wenig bis gar nichts zu tun haben. Nein, mit dieser Politik wird das Flüchtlingselend nicht bekämpft. Es wird nur verlagert. Dorthin, wo keine Kameras mehr hinschauen: in die Wüste Afrikas, wo mittlerweile mehr Menschen sterben als im Mittelmeer."

Das sagt ein Journalist. Was hätte uns der Prophet heute ins Stammbuch zu schreiben. "Gewalt und Unterdrückung!" müsste er wohl auch heute rufen.

Er wollte es nie. Er hat es getan, weil er - wie er selbst sagt - gar nicht anders konnte: "Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Inneren. Ich quälte mich, es auszuhalten, und konnte nicht." Jeremia ist seinem Auftrag treu geblieben, nicht zuletzt wegen des Feuers, das in seinem Innern brannte.

Menschen wie er bräuchte es auch heute. Gerade heute! Menschen, die immer wieder mahnend die Stimme erheben, voller Hoffnung, dass am Ende doch noch irgendjemand das Ruder herumreißen wird. Voller Hoffnung, wider alle Hoffnung. Denn allein aus dieser Hoffnung erwächst am Ende neue Zukunft.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 3. September 2017 in den Kirchen St. Bernhard und St. Martin, Karlsruhe)