Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
"... auf der Spur Jesu" - 6. Treffen: "Er sitzt zur Rechten des Vaters" - das neue Leben
Es gibt Sätze, die hört man nie in der Kirche - sogar Sätze aus der Bibel, aus dem Evangelium. Ich weiß zumindest von einem Vers aus den Evangelien, der nie in katholischen Messfeiern vorgetragen wird. Er fehlt in allen Lektionaren.
Wenn das Kapitel, in dem dieser Vers steht, gelesen wird - und das alle drei Jahre sogar in der Osternacht - dann endet das Evangelium genau einen Vers vorher. Und bei anderen Gelegenheiten fängt man erst einen Vers danach mit dem Vortrag an. Den Vers, den ich jetzt meine, werden Sie bei uns in einer Messfeier kaum einmal hören.
Vielleicht ahnen Sie es schon, an welchen Satz ich denke: Ich spreche vom 16. Kapitel des Markusevangeliums und damit vom ältesten Bericht über den Ostermorgen überhaupt. Und so wie die meisten von uns ihn kennen, mündet er in Vers 7 in die Worte des Engels: "Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat."
Dann aber ist Schluss - zumindest mit dem Evangelium in der Messe. Im Markusevangelium geht es aber weiter und zwar mit den Worten: "Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich."
Liebe Schwester und Brüder,
ich muss immer schmunzeln wenn Kolleginnen und Kollegen ihre Osterpredigt mit der Frage beginnen: "Was wäre wohl gewesen, wenn die Frauen am Ostermorgen geschwiegen hätten?"
Sie haben geschwiegen.
So zumindest können wir es dem ältesten Osterbericht überhaupt ganz klar entnehmen. Sie verließen das Grab und flohen und sagten niemand etwas davon, denn sie fürchteten sich. Damit, dass Schrecken und Entsetzen sie gepackt hatte, damit endet das älteste Evangelium, das wir überhaupt haben. So lautet der ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums.
Sie finden zwar heute nach diesem achten Vers des 16. Kapitels noch 11 weitere Verse, diese stammen aber nachweislich erst aus dem zweiten Jahrhundert, sind also gut ein, zwei Generationen jünger als der Markustext, den uns die ältesten Handschriften überliefern. Offenbar hielt man schon wenige Jahrzehnte später diesen abrupten und eigentlich niederschmetternden Schluss nicht mehr aus und ließ das Evangelium weitaus versöhnlicher und hoffnungsvoller enden. Aber ich denke, wenn wir danach fragen, wie das damals wohl historisch gewesen sein mag, wie man sich das, was da in Jerusalem an diesem Ostermorgen wohl geschehen ist geschichtlich vorstellen kann, dann kommen wir um diesen alten Schluss des Markusevangeliums nicht herum: darum, dass die Frauen eben nichts gesagt haben, darum, dass da alle von Schrecken und Entsetzen gepackt waren, darum, dass von den Jüngern wohl kaum einer mehr in Jerusalem geblieben ist - denn: wie lässt das Markusevangelium jenen Engel am leeren Grab sprechen? Nicht: Wartet in euren Häusern, dort wird er euch erscheinen! Sondern: Er geht euch voran nach Galiläa. Da schreibt jemand der wohl noch genau wusste, dass sich die Jünger auf und davon gemacht haben, zurück nach Galiläa, wo man noch vor Tagen voller Hoffnung aufgebrochen war und sich jetzt in panischer Angst wieder verkroch.
Wir werden nicht darum herumkommen, uns diesem Bericht des Markusevangeliums zu stellen und dementsprechend ernst zu nehmen, dass am eigentlichen Ostertag in Jerusalem noch niemand Halleluja gesungen hat. Das erste Ostern, das erste Osterfest fiel gleichsam aus.
Das können Sie auch durch die großartigen Osterberichte der übrigen Evangelien hindurch bis auf den heutigen Tag noch spüren. Auch dort ist davon die Rede, dass sich die Jünger verkrochen, hinter verschlossenen Türen zurückgezogen hatten, auch dort ist davon die Rede, dass man erst einen mühevollen Weg zurückzulegen hatte - denken Sie an die beiden Jünger auf dem Weg zum Grab, oder an die, denen erst nach der beachtlichen Wegstrecke nach Emmaus halbwegs die Augen aufgegangen sind. Auch dort ist noch davon die Rede, dass es gedauert hat, bis sich da eine Glaubensüberzeugung durchgesetzt hatte.
Und genau davon müssen wir wohl im Letzten auch ausgehen: Dass es gedauert hat! Es hat gedauert, Tage, vermutlich Wochen. Waren es Monate?
Kein Mensch weiß, was in dieser Zeit genau geschehen ist. Fassbar ist einzig und allein, dass nach einer gewissen Zeit die Jünger des Nazareners plötzlich wieder da waren. Und zwar massiver als je zuvor. Da wurde plötzlich im Namen dieses Jesus von Nazareth wieder verkündet. Nein - mehr noch - er wurde verkündet. Da wurde dieser Jesus als von den Toten auferstandener Messias vor aller Welt verkündet. Und wir stehen vor der Frage, was da jetzt wohl geschehen war.
Warum waren die auf einmal wieder da? Was hatte sich da in der Zwischenzeit ereignet?
Nur erwarten Sie jetzt bitte nicht von mir, dass ich auf diese Frage eine Antwort wüsste. Und erwarten Sie eine solche bitte auch von niemandem anders. Kein Mensch weiß das. Auch die Schrift spricht lediglich in einer Fülle von Bildern, über das, was sich nach der Auferstehung ereignet hat. Von der Auferstehung selbst spricht sie überhaupt nicht! Und von der Zeit danach nur sehr nebulös. Da kommt einer, den man zwar anfassen kann, für den Türen aber kein Hindernis sind, der kein Gespenst ist, aber auch nicht gehalten werden kann, der nicht angefasst werden will und sich doch berühren lässt, den man sieht, aber nicht erkennt ...
Alles Versuche, etwas ins Wort zu bringen, was sich so offenbar gar nicht wirklich sagen lässt. Einzig und allein mit einem einzelnen Wort wagen die neutestamentlichen Schriftsteller das damalige Geschehen näher zu fassen.
Dieses eine Wort scheint allein noch so ein wenig in der Lage zu sein, der Sache annähernd gerecht zu werden. Und das ist das griechische Wort "ophté", ein Wort, das in der Grundbedeutung vom Verb "sehen" abgeleitet ist und das man ins Deutsche etwa mit "er ließ sehen" oder "er machte, dass gesehen wurde" übertragen werden kann.
Damit aber fangen die Fragen erst recht an. Wer machte das? Ließ dieser Jesus, den man ans Kreuz geschlagen hatte, sich jetzt plötzlich wieder sehen? Ist mit "Er" Gott selbst gemeint? Machte Gott, sorgte er dafür, dass die Jünger diesen Jesus als Auferstandenen sehen, begreifen, erkennen konnten?
Wir können grübeln und rätseln. Die genauen Ereignisse dieser Zeit werden letztlich ein Geheimnis bleiben. Für die Auferstehung gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis. Kein Mensch war beim Ereignis selbst dabei.
Das leere Grab ist nur ein Hinweis und hat in der frühen Christenheit keine wirkliche Rolle gespielt. Die Verehrung des Grabes in der heutigen Jerusalemer Grabeskirche beginnt erst in sehr viel späterer Zeit.
Nach der Kreuzigung Jesu haben sich die Jünger Hals über Kopf zerstreut.
Alle Berichte über die Tage nach der Auferstehung sind Versuche in Bildern und Gleichnissen ins Wort zu bringen, was sich eigentlich gar nicht sagen lässt. Und alle exakten Darstellungen und Schilderungen entspringen der Phantasie sehr viel späterer Zeit, sind Inhalte von mehr oder minder angeblichen Visionen von Mystikern auf der einen Seite und Scharlatanen auf der anderen, naiv ausgeschmückt, weitererzählt und da und dort selbst bis heute gepredigt. Zum wirklichen Verstehen dessen, was sich damals ereignet hatte, tragen sie wenig bei.
Das aber, das, was sich wirklich ereignet hatte, das musste - so still und unspektakulär es möglicherweise auch war - letztlich überwältigend gewesen sein. Denn es hat Menschen dazu veranlasst alle Furcht zu überwinden, noch weit mehr als zuvor auf diesen Jesus zu setzen und alles für ihn einzusetzen.
Und weit wichtiger als alles, was er einmal getan hatte, gesagt hatte, gelehrt hatte, weit wichtiger als alle Inhalte seiner Predigt, war nun plötzlich dieser Jesus selbst geworden. Er war zum eigentlichen Inhalt geworden.
Die Jünger verkündeten keine Botschaft, sie verkündeten Jesus, den Gekreuzigten, und zwar als den auferstandenen Messias, als auferstandenen Christos. Und alles was er gesagt und getan hatte, wurde nun im Licht seiner Auferstehung gesehen und neu gedeutet. Man stand nun vor der Frage - und damit schließt sich auch für uns in unserer Spurensuche der Kreis zurück zu unserem ersten Abend und der ersten Fragestellung, mit der wir an diesen Jesus herangegangen sind - es ging jetzt zuallererst um die Frage wer war dieser Jesus, den wir unter uns erlebt hatten, wer ist dieser Christus, an den wir zum Glauben gekommen sind. Und um die Beantwortung dieser Frage rang man nun Jahrzehnte wenn nicht gar Jahrhunderte lang.
Einer der ältesten Versuche zu umschreiben, wer dieser Christus letztlich ist, finden wir ganz am Anfang des Briefes den Paulus nach Rom geschrieben hat. Er schreibt da, dass er das Evangelium verkünden wolle, das Evangelium von diesem Jesus, der dem Fleisch nach Sohn Davids gewesen sei, dem Geist der Heiligkeit nach aber eingesetzt wurde zum Sohn Gottes seit der Auferstehung von den Toten.
Über diesen Satz haben sich Generationen von Theologen die Köpfe zerbrochen. Was meint Paulus damit? Eingesetzt zum Sohn Gottes seit der Auferstehung von den Toten? Das klingt, als wäre das mit dem Sohn sein, so ähnlich wie mit einem Amt, in das man eingesetzt wird, so etwa, wie römische Kaiser Mitregenten adoptieren, um sie in ihre Position einzuführen. Spricht Paulus so, weil er glaubt, dass man in Rom ihn so am besten versteht? Oder glaubte er gar, dass der Sohn Davids, der Mensch Jesus, erst durch die Auferstehung zum Sohn Gottes wurde?
Nein, sagt das Markusevangelium. Schon bei der Verklärung wurde Jesus doch von der Stimme aus dem Himmel als Gottes geliebter Sohn geoffenbart. Aber das Markusevangelium ist schließlich erst nach den Paulusbriefen entstanden. Hat man das Sprechen vom Gottes Sohn erst mit fortschreitender Zeit, nach und nach gleichsam nach vorne verlegt? Später dann schon bei der Taufe im Jordan und dann erst in den 90er Jahren des 1. Jahrhunderts durch den Bericht von der Verkündigung der Geburt des Gotteskindes an die Jungfrau Maria ganz an den Anfang seines irdischen Lebens? Wurde aus dem Menschen Jesus, den Gott zu sich genommen hat, mit fortschreitender Zeit einfach immer mehr der Gottessohn, der auf die Welt gekommen ist?
Das klingt verlockend einfach und immer wieder kann man es auch so lesen, vor allem aus der Richtung derer, für die Jesus von Nazareth eben doch nur ein ganz normaler Mensch gewesen ist. Aber es ist zu einfach.
Es stimmt nämlich nicht, dass Jesus einfach mit fortschreitender Zeit immer früher zum Gottessohn erklärt worden sei. Etwa aus der gleichen Zeit wie der Römerbrief des Apostels Paulus, vermutlich sogar ein wenig älter ist nämlich ein weiteres Schreiben des Völkerapostels, jenes an die Gemeinde in Phlippi nämlich. Und dort spricht Paulus noch einmal ganz anders über diesen Jesus. Sie kennen diesen Text:
"Christus war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist als alle Namen,
damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu
und jeder Mund bekennt:
'Jesus Christus ist der Herr' -
zur Ehre Gottes, des Vaters."
Um ihn geht es, um den, in dem uns Gott auf unerklärliche und unüberbietbare Weise nahe gekommen ist, der sein Leben für uns hingegeben hat und in seiner Überwindung des Todes das Leben für uns alle gewonnen hat. Er ist der eigentliche Inhalt der christlichen Botschaft. Auf welche Weise auch immer - seine Jünger hatten das letztlich begriffen.
Gehören Sie zu denen, die jetzt sagen, ich begreif jetzt gar nichts mehr? Wenn Sie jetzt sagen, jetzt ist mir noch viel weniger klar, als mir am Anfang gewesen ist, dann keine Angst: Geht mir genauso.
Letztlich ertappe ich mich immer wieder dabei, ertappe mich bei dem Wunsch doch einmal die Jünger wirklich fragen zu können, wie genau das gewesen ist, was genau sie denn erlebt haben und wie ich mir das alles dann vorstellen muss. Wirklich verstehen, tue ich das alles nämlich auch nicht.
Wissen Sie aber was ich glaube? Diese Jünger, die ich so gern fragen würde, die würden mich völlig verdutzt anschauen. Ich glaube die würden mich gar nicht verstehen. Diese Männer und Frauen in Israel damals die würden meine ganze Art zu fragen, mein ganzes Analysieren, Systematisieren und letztlich alles Bis-ins-Kleinste-ergründen-wollen überhaupt nicht verstehen, so wie die Menschen im Orient noch heute ganz große Schwierigkeiten mit der Art und Weise haben, mit der wir Abendländer an solche Fragen herangehen. Vermutlich würde man mir kaum andere Bilder und Gleichnisse erzählen, als jene, die uns in den biblischen Schriften überliefert wurden.
Was versuchst Du zu ergründen, wie Dinge gewesen sind, was suchst Du nach Fakten und Zahlen, die letztlich doch nichts bedeuten und sagen. Frage danach, was all das, was da wohl geschehen ist für Dich bedeutet. Frage danach, was es heißt, dass auch Dir das Leben durch diesen Jesus eröffnet wurde. Jetzt aber nicht wieder so, wie das Abendländer dann immer wieder gleich tun. Nicht indem man wieder eine Lehre vom Leben nach dem Tod konstruiert, auf manchmal gar unappetitliche Weise zu klären versucht, wo genau wer nach seinem Tod wie lange und warum auszuhalten hat, bis er dann dort und in welcher Form eine dann doch nicht zu definierende Ewigkeit wie auch immer erleben kann. Lass doch dieses unerquickliche Ergründen und Systematisieren wollen, diesen von vorneherein zum Scheitern verurteilten Versuch einer widerspruchslosen Sprachregelung für eine Wirklichkeit, die sich in Sprache nun einmal nicht ausdrücken lässt. Lass Dich einfach ein auf diesen Gott, der Dich hält und trägt und der Dir in Jesus von Nazareth auf Augenhöhe begegnet.
Dabei aber wird man dann vermutlich zu gar nicht viel mehr kommen, als die Menschen des Alten Testamentes an Ahnung ins Wort gebracht haben. Man wird keine allgemeinen Auskünfte geben können, keine allumfassende Theologie von einem Leben nach dem Tod, das uns durch Christus eröffnet wurde, aber man wird für sich selber spüren, welche Bedeutung all das für mich, für jeden und jede von uns hat.
So wie es meines Erachtens nirgendwo ergreifender, umfassender und treffender zum Ausdruck gebracht worden ist, als im Gebet jenes Menschen, das sich uns in den Psalmen erhalten hat. Da spürt einer, was es heißt, von Gott gehalten und getragen zu sein, dass er einzig und allein lebt, nicht weil er eine ewige Seele hätte oder ähnlichen Quatsch, sondern weil er von diesem Gott ins Leben gerufen wurde, und weil dieser Gott ihn Tag für Tag durch diese Leben trägt. Und er spürt, dass der, der von sich gesagt hat, er sei der, der für mich da ist, wann, wo und wie es auch sei, mich nie fallen lassen wird, selbst im Tode nicht. Dass mich dieser Gott, der treu zu mir steht, gar nicht fallen lassen kann, dass er mein Leben selbst durch den Tod hindurchtragen wird.
Und in diesem Glaubensbewusstsein entsteht die für mich schönste Formulierung dessen, was wir mit Leben selbst durch den Tod hindurch bezeichnen, die jemals von Menschen geprägt wurde. Mehr zu wissen, befriedigt vielleicht unser Spekulieren und unsere Neugier, Neues bringt es nicht wirklich. Letztlich ist mit dieser Formulierung nämlich alles gesagt. Damit ist alles gesagt, was es braucht. Und damit sollten wir uns eigentlich auch bescheiden.
Im Nachsinnen über sein eigenes Ende kommt der Beter des Psalms 73 genau auf diesem Weg nämlich zur festen Glaubensüberzeugung:
"Ich bleibe immer bei dir,
du hältst mich an meiner Rechten.
Du leitest mich nach deinem Ratschluss
und entrückst mich am Ende in Herrlichkeit.
Was habe ich im Himmel außer dir? ...
Mag Leib und Herz mir schwinden,
Gott ist der Fels meines Herzens
und mein Anteil auf ewig." (Ps 73,23-26)
Amen.
[Übersetzung des Psalmtextes nach: Alfons Deissler, Was wird am Ende der Tage geschehen? -
Biblische Visionen der Zukunft (Freiburg 1991) 106.]
(gehalten am 10. Mai 2013 in der Antoniuskirche, Bruchsal)