Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
"Weckruf - Wegruf" - Gottesdienst am Montag des "Amosprozesses" (Am 2,6-8)
So spricht der Herr: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, / wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen / und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie die Kleinen in den Staub treten / und das Recht der Schwachen beugen. Sohn und Vater gehen zum selben Mädchen, / um meinen heiligen Namen zu entweihen. Sie strecken sich auf gepfändeten Kleidern aus / neben jedem Altar, von Bußgeldern kaufen sie Wein / und trinken ihn im Haus ihres Gottes. (Am 2,6-8)
Jetzt ist's vorbei. Jetzt kann man sich nicht mehr herausreden. Jetzt ist Schluss mit lustig.
Bisher war es ja noch ganz in Ordnung. Bisher ging es um die anderen. Auf die Syrer hat er geschumpfen, die das Volk in grausamster Weise überfallen hatten, auf die Philister, die die Verschleppten in die Sklaverei verkauften, und die Edomiter, die Nachbarn, das Brudervolk, das keinerlei Skrupel hatte sogar gegen eine blutsverwandte Bevölkerung vorzugehen.
Da werden sie dagestanden und Beifall geklatscht haben, so wie man gern applaudiert, wenn da einer die Fehler der anderen an den Pranger stellt und mit dem Finger auf die Vergehen der anderen zeigt.
Liebe Schwestern und Brüder,
das war schon fast so etwas wie eine Masche der Propheten. Man fängt mal gewinnend an, fesselt die Zuhörer, schaut dass sich die Zahl der Umstehenden vergrößert und dann haut man ganz kräftig rein.
Ganz ähnlich tritt auch der junge Jesaja auf. Er stellt sich mitten in die Menge, trällert ein nettes Liedchen, ein Liebeslied - kommt immer gut -, von einem Bräutigam und seiner Braut, einem Weinberg und den Trauben, er wickelt die Zuhörer um den Finger und schleudert ihnen dann ungeschminkt eine unerhörte Gerichtsandrohung an den Kopf.
Nicht anders dieser Amos: Während sie noch johlen und Beifall klatschen, setzt er schon wieder neu ein: Wegen der drei Verbrechen, wegen der vier...
Auch das war üblich, ein Stilmittel: ein Zahlenspruch, etwas was wir so nicht kennen.
Vielleicht kann man es noch so ganz entfernt mit dem ein oder anderen Lied in Verbindung bringen: 1000 mal berührt, 1000 mal ist nichts passiert. Damit ist absolut nichts gesagt, und doch weiß jeder, ganz genau um was es geht.
Drei Verbrechen und vier... - keines wird genannt und doch weiß jeder, dass jedes einzelne davon schon schlimm genug gewesen ist.
Tausend und eine Nacht... Und jetzt führt der Prophet aus, warum es "Zoom" gemacht hat!
"Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie die Kleinen in den Staub treten und das Recht der Schwachen beugen."
Drei Verbrechen oder vier - schlimm genug, aber jetzt ist das Fass zum Überlaufen gebracht worden. Jetzt ist's vorbei - Schluss mit lustig! - und nicht vorbei für die anderen, dieses Mal für die Zuhörer selbst!
So wie bei David damals, als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem der König den Urija - jenen Mann der Batseba -, hatte umkommen lassen. So wie der Prophet dem König damals dieses "Du selbst bist der Mann" ins Gesicht geschleudert hat.
Auch jetzt meint unser Prophet nicht irgendwelche anderen. Jetzt geht es ihm um die, die ihm zuhören! Nicht besser seid Ihr als die anderen, ganz im Gegenteil: Die haben die abscheulichsten Gräueltaten vollführt, im Krieg, gegenüber den Feinden - furchtbar und unentschuldbar. Aber Ihr führt Krieg im eigenen Land, gegen die eigene Bevölkerung, mitten im Frieden, jeden Tag!
Und Amos nennt, was da dem Fass den Boden ausschlägt: Wegen ein paar Sandalen, die er nicht bezahlen konnte - und das sind keine Designerstücke für mehrere hundert Euro! Da denke man an die Sandalen aus Autoreifen, die die Menschen in den Anden beispielsweise tragen - wegen ein paar Cent, die er nicht hatte bezahlen können, deswegen werden Menschen in die Schuldsklaverei verkauft!
Da werden Mäntel gepfändet. Ungeheuerlich! Dabei wird sogar biblisches Gebot gebrochen! Für viele war der Mantel offenbar die einzige Möglichkeit, sich in den kalten Nächten draußen zu schützen. Und in Jerusalem kann es empfindlich kalt werden!
Und offenbar hatten so viele nichts anderes, um sich nachts zuzudecken, dass diese Vorschrift sogar in der Bibel steht, den gepfändeten Mantel nämlich spätestens am Abend wieder zurückzugeben.
Doch sie strecken sich auf gepfändeten Kleidern aus, bei ihren Saufgelagen am Altar.
Ists nicht schlimm? Grausam, gell!? Was muss das für eine verdorbene Gesellschaft gewesen sein! Man könnte sich direkt drüber aufregen.
Ganz ähnlich, wie ich das in Breisach 'mal erlebt habe, als ich als junger Vikar das Ende in den schwärzesten Farben gemalt habe und in aller Deutlichkeit davon sprach, dass keiner und keine von uns sich um Gottes Gericht herumdrücken wird können!
Und "Toll, Herr Vikar!" hat man mir anschließend auf die Schulter geklopft, "Toll! Heute haben Sie es Ihnen wieder einmal gesagt!" - Ihnen, nicht mir, nicht uns. Wir doch nicht!
Wann werden wir begreifen, dass die Bibel hier nicht von irgendjemandem, dass sie von uns spricht!
Wir mögen Opfer sein, in vielen Belangen unseres Lebens. Was die Zusammenhänge in unserer Welt angeht stehen wir, so fürchte ich, aber absolut nicht auf der Seite der Opfer.
Können wir wirklich laut jubeln, wenn die Propheten Gottes Gerechtigkeit verheißen, davon sprechen, dass der Gott der Bibel immer und überall auf der Seite der Armen und Ärmsten steht - und deshalb wohl in den meisten Fällen kaum auf unserer! Bilden wir uns denn wirklich ein, wir könnten uns zurücklehnen und damit herausreden, dass die Umstände halt so waren? Dass wir da halt nichts machen konnten und es an uns ja wohl nicht lag?
Wir haben unser Leben und unseren Wohlstand nur deswegen, weil es dem größten Teil der Menschheit weit schlechter geht als uns. Wir verbrauchen seit Jahrzehnten alle Ressourcen dieser Welt.
Wenn aber die Menschen in China damit beginnen und bei uns die Ölpreise deshalb in die Höhe schnellen, dann schreit alles wie im Chor, dass dies doch nicht gehe und man doch auf die ach so wertvollen und doch so knappen Rohstoffreserven unserer Erde gefällig Rücksicht nehmen müsse.
50 Cent, habe ich mir sagen lassen, umgerechnet 50 Cent hat eine chinesische Näherin als Lohn für eine Jeanshose, die wir für 70, 80, 100 Euro bei uns in den Regalen finden.
Und die Menschen in Peru leiden an Hautkrebs und Dürre, weil unser Umgang mit der Natur, ihnen das Leben zur Hölle macht.
Und was ist mit den Menschen hier, die sich Leben schon nicht mehr leisten können? Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes! Wir haben doch schon lange die Zweiklassenmedizin. Wenn du bezahlen kannst, dann bekommst du die Operation sofort. Ansonsten verknappen wir einfach die Plätze für Kassenpatienten, verlängern die Wartezeiten und so löst sich dieses oder jenes Problem ganz einfach mit der Zeit auf rein biologischem Wege wie von selbst.
Und schieben wir es nicht auf das System. Wir haben uns schon lange daran gewöhnt. Wir können ganz gut damit. Wir müssen uns nur mit Unseresgleichen abgeben und dann ist alles in Ordnung. Mit entsprechend hohen Mauern lässt es sich sogar in der Nachbarschaft von Slums ganz gut leben.
Man darf sie nur nicht zu Gesicht bekommen, die Opfer, sie müssen namenlos bleiben und dürfen mir unter keinen Umständen auf die Pelle rücken.
In einem amerikanischen Film über einen Gerichtsprozess habe ich das mal gehört: Da rät der Verteidiger dem Angeklagten, ja nie den Namen des Opfers in den Mund zu nehmen. So sei der Tote für die Geschworenen nur ein Todesfall. Wenn er plötzlich mit seinem Namen genannt wird, dann hat er auf einmal ein Gesicht, ist plötzlich der Sohn eines Vaters und einer Mutter und selbst der Vater eines Sohnes oder einer Tochter - ein Mensch, alles nur nicht mehr ein bloßer Fall.
Gott kennt von jedem Opfer seinen Namen und er gibt jedem Opfer ein Gesicht und eine Geschichte und ein Gewicht.
Und da stehen sie plötzlich vor uns: Menschen, auf deren Seite der Herr steht. Männer und Frauen, wie jenes Mädchen, von dem der Prophet spricht, dass Sohn und Vater zu ihm gehen.
Wir wissen nicht mehr von ihr, vieles lässt sich da nur erahnen. Es sieht aber schwer danach aus, als wäre hier eine junge Frau, mit einem jungen Mann zusammen gekommen. Alles andere als einfach damals. Er muss sie jetzt heiraten, sonst hat sie nichts mehr, sonst steht sie entehrt und ohne Zukunft da.
Und da bricht der Vater dieses Mannes, dieser - verzeihen Sie mir den Ausdruck - dieser alte Sack, in diese Beziehung ein und macht dadurch die sich anbahnende Ehe auch noch unmöglich. Denn nachdem die junge Frau jetzt auch noch etwas mit einem anderen hatte, kann sie der Sohn nach der damaligen Tradition gar nicht mehr heiraten ohne selbst entehrt dazustehen. Und dabei hätte sich die Frau dem Vater der Familie, dem Patriarchen, dem Herrn der ganzen Sippschaft, nur schwerlich widersetzen können.
In mehrfacher Hinsicht war sie Opfer, so wie Frauen in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder zu Opfern gemacht wurden und werden.
Und allem voran von ihren Männern.
Wie oft wird beklagt, dass heute so viele Ehen auseinandergehen. Und häufig sind es Frauen, die sich über jene Frauen aufregen, die heute schon bei den kleinsten Schwierigkeiten davonlaufen würden.
Aber ist es nicht viel eher so, dass Ehen häufig nur deswegen früher so lange gehalten haben, weil Frauen absolut keine Möglichkeit hatten, auch nur irgendetwas dagegen zu tun? Wie viele Ehen haben deswegen gehalten, weil Frauen eben notgedrungen zu allem "Ja" und "Amen" sagen mussten?
Ich war noch kein Jahr in Bruchsal, da haben mir unabhängig voneinander innerhalb weniger Monate zwei Frauen beim Tod ihres Mannes den Satz gesagt: "Herr Pfarrer, jetzt denken Sie bitte nicht schlecht von mir, aber ich fange jetzt wieder an zu leben!"
Wobei ich weiß, dass Vertreter von Kirche sehr vorsichtig sein müssen, mit ihren Sonntagsreden und klugen Veröffentlichungen in Sachen Eintreten für die Rechte der Frauen - wo doch gerade Katholische Kirche zu den Institutionen gehört in denen eine wirkliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen, noch mit am wenigsten durchgesetzt ist.
Gott steht auf der Seite derer, die zu kurz kommen. Wo stehen wir?
Wenn wir selbst nicht zu den Opfern zählen, dann sorgen wir dafür dass wir am Ende nicht gar Täter sind! Und Täter - zumindest Mittäter - wird man auch schon durch nichts tun!
Oh ja, dann tun wir eben, machen wir was dagegen. Lassen wir das Spendenkörbchen rumgehen und machen wir eine kräftige Sammlung. Geben wir einen stolzen Betrag und fühlen uns ganz gut dabei. Das war und ist immer schon ein probates Mittel gewesen. Kirche hat diese Art zu reagieren fast schon zur Perfektion getrieben. Wir sammeln und pflegen die Opfer des Systems.
Und am besten so, dass die sich gar nicht dagegen wehren können. Denn das wäre ja furchtbar, wenn sich die Opfer auch noch einmischen würden, wenn die auch noch sagen würden was sie brauchen, wenn sie aufbegehren würden, gegen den ein oder anderen von uns doch ach so wohlgemeinten Hilfeversuch!
Wir bringen es fertig, selbst im Helfen Opfer noch einmal zu Opfern zu machen, sie gar nicht ernst zu nehmen, zu Hilfsobjekten zu degradieren und selbst wieder in der Rolle derer zu verbleiben, die die Fäden in der Hand behalten und - vor allem - angeben, wo es lang geht.
Das aber ist es, was Not tut: Wir müssen zuallererst vom hohen Ross heruntersteigen, wahr- und ernst nehmen, dass wir Schuld haben, Schuld an den Zuständen wie sie sind - auch ohne persönlich etwas dafür zu können; allein dadurch, dass wir dort hineingeboren wurden, wo wir heute sind.
Es geht nicht um die Millionärssteuer - Ich denke, ich gehöre - wie die allermeisten hier zu denen auf der Welt, denen es verdammt gut geht.
Wir sind nicht die Guten! Wir stehen als Sünder und schuldbeladene Menschen vor Gott! Und es steht uns gut an, denen, die wir als am Rand der Gesellschaft stehend bezeichnen, auf Augenhöhe zu begegnen. Und ihnen zuallererst, ins Gesicht zu sehen - sie anzusehen, ihnen das Ansehen zukommen zu lassen, das ihnen zusteht.
Und dann gilt es wechselseitig voneinander zu erfahren und voneinander zu lernen und gemeinsam zu überlegen, in welche Richtung wir marschieren müssen.
Was die Menschen in unserer Partnerschaftsarbeit hier über die Kontinente hinweg in der Arbeit mit den Gemeinden in Peru vorleben, das ist auch richtungsweisend für unsere Gesellschaft hier.
Es ist keine Lösung von den Elfenbeintürmen ein paar Brotscheiben hinabzuwerfen. Es ist keine Lösung groß rumzutönen, dass wir halt allen die Möglichkeit geben müssen, auch zu den Elfenbeintürmen aufzusteigen. Denn soviel Elfenbein gibt es gar nicht. Und solche Parolen, wie sie gerade jetzt wieder in den vielen Wahlkämpfen zu hören sind, dienen meist nur als Argument dafür, selbst nichts vom Turm hergeben zu müssen.
Wir müssen die Türen öffnen und gemeinsam überlegen, wie wir das, was wir haben so einsetzen, dass alle das Nötige zum Leben auch wirklich haben. Das mag bedeuten, dass ich da und dort ganz gewaltig zurückstecken muss. Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, nicht mehr alles und jedes genau zu der Zeit geboten zu bekommen wann ich es jetzt eben halt für mich will.
Aber wenn ich es nicht selber tue, wenn ich mich nicht freiwillig darauf einlasse, dann wird über kurz oder lang alles den Bach hinunter gehen.
Gott macht es uns vor. Er kennt von jedem Menschen seinen Namen und er gibt jedem Menschen ein Gesicht und eine Geschichte und ein Gewicht. Und wo wir dem anderen Menschen seine Bedeutung nehmen, wo wir ihn seiner Würde berauben, dort stehen wir auf der Seite der Täter.
Dann aber "Gute Nacht" - denn Gott steht auf der anderen.
(gehalten am 15. Juni 2009 in der Peterskirche, Bruchsal)