Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


29. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr C (2 Tim 3,14-4,2)
Anlässlich des 125jährigen Jubiläums der Franziskanerinnen in Bruchsal

Mein Sohn! Bleibe bei dem, was du gelernt und wovon du dich überzeugt hast. Du weißt, von wem du es gelernt hast; denn du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können, damit du durch den Glauben an Christus Jesus gerettet wirst. Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein. Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. (2 Tim 3,14-4,2)

Möchten Sie auch wiedergeboren werden? Immer mehr Menschen wünschen sich das ja. Interessanterweise auch immer mehr Christen. Sie glauben an eine Wiedergeburt.

Ich tu das nicht. Ich will das nicht einmal! Und Gott sei Dank verkündet dieser Jesus alles, nur keine Wiedergeburt. Ich fände diesen Gedanken erschreckend: wieder neu als kleines Kind hier in dieser Welt geboren zu werden.

Liebe Schwestern und Brüder,

Alles, was ich hier erlebt habe, was ich gelernt habe, die Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe, all das wäre dann ja weg. Ich müsste ja wieder bei Null anfangen. Ich würde jeden Fehler wieder neu begehen, weil mir die Erfahrung fehlt, ihn wirklich zu vermeiden.

Der Gedanke an Wiedergeburt - für mich hat der etwas von einem Fluch. Und bezeichnenderweise wird er dort, wo er entstanden ist, ja auch genau als solcher erfahren.

Mir ist wichtig an meinem Glauben, dass das, was mich ausmacht, was ich erlebt und begriffen habe, dass sich all das durchhält, dass ich "ich selber" bleibe, und dass ich mich dabei tatsächlich weiterentwickle, bis hinein in diese neue Wirklichkeit von Leben, die Gott uns verheißen hat.

Diese Vorstellung ist kein unwesentlicher Teil unseres Glaubens. Er gehört zu jener ganz neuen Sicht des Lebens, die die Bibel entwickelt hat. Das Denken in Kreisen, in immer wiederkehrenden Kreisläufen, die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wie sie in den Kulturen um Israel herum vorherrschte, diese Vorstellung wurde schließlich aufgebrochen. In der Bibel hat die Zeit plötzlich eine Richtung. Und sie hat ein Ziel: ein Ziel, das letztlich Gott selber ist.

Zeit hatte jetzt nichts Bedrohliches mehr, sie war Gottes Zeit, wurde zur Geschichte und im letzten zur Heilsgeschichte.

Der Gott der Bibel ist ein Gott der Geschichte.

Auch wenn wir im Alltag immer noch das Gefühl haben, gleichsam in einer Tretmühle zu stecken, wenn der Ablauf der Jahreszeiten und das sich scheinbar immer schneller drehende Rad der Zeit uns weiter in der Vorstellung des Kreises gefangen halten - unsere Zeit ist kein Kreislauf, sie hat ein Ziel, sie ist Geschichte. Und sie schichtet Jahr um Jahr die Erfahrung und das Erleben von Menschen zu einem immensen Stapel, einem immer größer werdenden Schatz, den wir im besten Sinne des Wortes, mit Tradition, überliefertem Erbe, bezeichnen.

Und auf diesem Erbe stehen wir.

Das meint der zweite Timotheusbrief, wenn er uns dazu aufruft, das was hinter uns liegt, in den Schriften, den Überlieferungen, auf uns gekommen ist, ernst zu nehmen, davon zu lernen, um unsere Welt weiter zu verbessern, um die Gerechtigkeit voran zu bringen und nicht Fehler, die sich schon einmal als solche erwiesen haben, immer wieder aufs Neue zu machen.

Dafür gilt es zurückzublicken, sich am Vergangenen zu orientieren, um daraus die richtigen Konsequenzen für das Heute und vor allem für Morgen zu ziehen.

Genau deshalb beschäftigen wir uns ja mit unserer Geschichte. Und weil uns diese Geschichte nicht nur von unseren Wurzeln kündet, weil sie uns die Gegenwart erschließt und Orientierung für die Zukunft bietet, deshalb können wir diese Geschichte auch feiern.

So, wie wir heute Geschichte feiern: 125 Jahre Geschichte. Es ist die Geschichte der Franziskanerinnen hier in Bruchsal. Sie sind ein Teil dieser Geschichte, dieser Geschichte des Heils.

Hier haben Frauen über ein Jahrhundert lang aus unserer Tradition gelebt, diese Tradition gepflegt und - wie es im Timotheusbrief steht - die Lehren daraus gezogen und diese dann auch vorgelebt. "Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung." Man könnte fast meinen, der Verfasser des zweiten Timotheusbriefes, hätte die Schwestern, die Lehrerinnen und Lehrer des Instituts Sancta Maria bei diesen Zeilen vor Augen gehabt.

Die Franziskanerinnen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten einen Schatz nicht nur bewahrt, sie haben ihn für die Gegenwart aufbereitet und auf Zukunft hin gedeutet. Jenen Schatz von Erfahrungen, den ich nicht missen möchte, nicht in unserer Gesellschaft und nicht in meinem eigenen Leben.

Dieser Erfahrungsschatz soll uns, und der soll mir, nicht einfach mehr genommen werden. 

Und das wird nicht geschehen. Wir drehen uns nämlich nicht im Kreis. Wir fangen nicht jedes Mal neu am Nullpunkt an. Die Schrift hat uns gelehrt, dass mein Leben ein Ziel hat. Und dass wir auf dem Boden unserer Geschichte stehend gemeinsam auf dieses Ziel zugehen.

Das ist eine frohe Botschaft, die es unter die Menschen zu bringen gilt, überall, wo man sie hören möchte.

Und auch dort, wo man sie nicht hören will.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 19./20 Oktober 2013 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)