Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
14. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr C (Jes 66,10-14c)
Freut euch mit Jerusalem! Jubelt in der Stadt, alle, die ihr sie liebt. Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr über sie traurig wart. Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust, trinkt und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum! Denn so spricht der Herr: Seht her: Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Völker wie einen rauschenden Bach. Ihre Kinder wird man auf den Armen tragen und auf den Knien schaukeln. Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost. Wenn ihr das sehr, wird euer Herz sich freuen, und ihr werdet aufblühen wie frisches Gras. So offenbart sich die Hand des Herrn an seinen Knechten. (Jes 66,10-14c)
Liebe Schwestern und Brüder,
Liebe kann unheimlich weh tun. Sie müssen nur einmal versuchen einem Kind eine spitze Schere aus der Hand nehmen, und zwar jene Schere, mit der es jetzt gerade so schön zu spielen angefangen hat, die gerade so ungeheuer interessant ist und mit der man doch so wunderschöne Sachen machen kann. Da kann Liebe ungeheuer weh tun. Mit ansehen zu müssen, wie das Kind dann herzzerreißend weint, vielleicht sogar wild auf einen einschlägt, mit ansehen zu müssen, dass es jetzt absolut nicht begreifen kann, wieso die Mama oder der Papa so gemein sein können, ausgerechnet dieses neu entdeckte und doch so interessante Spielzeug, dieses Spielzeug jetzt auch noch ausgerechnet ganz oben auf den Schrank zu legen. Da kann Liebe ungeheuer weh tun.
Einmal schon den Eltern, denn es tut weh, einem Kind, das man liebt, etwas verbieten zu müssen, etwas wegnehmen zu müssen, das tun zu müssen, obschon man sieht, dass das Kind jetzt absolut nicht verstehen kann, warum das denn notwendig sein soll, ein Kind weinen zu sehen, und aushalten zu müssen, dass es jetzt weint, weil es notwendig ist, notwendig, um wirklich größere Not abzuwenden, um größeres Unheil zu verhindern. Das kann manches Mal schon ganz schön hart sein, das kann einen innerlich schon fast zerreißen.
Und nicht minder hart ist das natürlich für das Kind selbst. Wie soll es auch verstehen, dass da keine böse Absicht dahintersteht, dass die beiden, die doch immer wieder beteuern, dass sie einen gern haben, dass die das nicht etwa deswegen tun, weil sie jetzt Spaß daran finden würden, einen zu quälen, dass ihre Versuche mich jetzt zu trösten, obschon sie doch genau wissen, warum ich jetzt schreie und obschon sie ja einzig und allein daran schuld sind, dass ich jetzt schreie, dass ihre Versuche mich jetzt zu trösten, nicht etwa auch noch als Spott gedacht sind, sondern wirklich Ausdruck einer Liebe, einer fürsorgenden Liebe sind, einer Liebe, die manchmal eben tatsächlich weh tun kann.
Ich hab mich letzthin an solch eine Szene erinnert. Und ich habe mich daran erinnert vor dem Hintergrund, dass Gott in der Lesung, die wir eben gehört haben, zu seinem Volk sagt: Wie so eine Mutter, so bin ich zu euch. Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch.
Wenn Gott sich in der Schrift immer wieder mit einer Mutter vergleicht, - und schauen Sie selber einmal nach, er tut dies mindestens genauso oft wie er sich als Vater bezeichnet. Gerade wenn ich bedenke, dass das hebräische Wort für Erbarmen und Barmherzigkeit das gleiche Wort wie für Mütterlichkeit ist. - Wenn Gott sich aber immer wieder mit einer Mutter vergleicht, dann schwingt für mich da genau dieses Bild, das Bild des kleinen Kindes und seiner Eltern mit.
Der Gott, zu dem ich allein Vater sage, das könnte auch der gestrenge Herr Vater sein, der Vater, der den Stammesverband seiner erwachsenen Kinder nach Recht und Ordnung zusammenhält der den Stamm durch die Wüste führt, der ordnet und leitet, wie man es von der orientalischen Großfamilie her eben kennt. Der Gott, der aber von sich sagt, dass er für uns wie ein guter Vater und eine liebende Mutter ist, der davon spricht, dass er uns auf den Armen trägt, auf seinen Knien schaukelt, der uns trösten will, wie eine Mutter ihren Sohn, das ist der Gott, der zu uns viel eher in einem ganz ähnlichen Verhältnis steht, wie Eltern zu einem kleinen Kind.
Wir sind nicht die erwachsenen Söhne und Töchter Gottes, die ihren Vater ab und an am Sonntag vielleicht wie im Altersheim besuchen. Wir sind die Kinder Gottes, die diesen Gott brauchen und nötig haben, so eben, wie das kleine Kind seine Mutter. Die seine Hand brauchen, um einigermaßen sicher gehen zu können, die ihn brauchen, um aufgefangen zu werden, wenn man ins Straucheln gerät, und die ihn brauchen, damit uns manches Mal jemand die Schere aus der Hand nimmt, um größeres Unheil gerade noch zu verhindern.
Ich weiß es ja auch nicht, aber vielleicht sind viele Situationen in meinem Leben, von denen ich mich frage, warum die denn so furchtbar ablaufen mussten, warum es denn sein musste, dass mir da so weh getan wurde, meine Planung, wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist, warum dieser Gott es zugelassen hat, dass ich da so leiden musste - in meinem Innern oder auch ganz real körperlich -, vielleicht sind ja viele von diesen Situationen ganz ähnlich wie die Erlebnisse eines Kindes; eines Kindes, dem ein Spielzeug aus der Hand genommen wurde; ein Spielzeug dessen Gefährlichkeit es gar nicht abschätzen konnte; dem etwas verboten wurde, das mit allen Mitteln daran gehindert wurde, etwas zu tun, etwas, was möglicherweise nicht auszudenkende Folgen gehabt hätte; Folgen, die das Kind eben nicht, die ein guter Vater und eine liebende Mutter aber sehr wohl abzuschätzen und zu beurteilen wissen.
Vielleicht ist es ja so, dass ich genau in solchen Situationen - vielleicht durchaus verständlicherweise - an der Liebe diese Gottes zweifle, so wie ein Kind sicher mehr als einmal daran zweifelt, dass seine Eltern es wirklich gut mit ihm meinen, dass im Lichte Gottes aber, das was da gerade vorgefallen ist, dass dies etwas ist, was ganz einfach sein musste, auch wenn es schmerzlich war, was sein musste, weil es möglicherweise nichts anderes ist, als der Ausdruck einer fürsorgenden Liebe, einer Liebe Gottes zu uns Menschen, die mitunter auch weh tun kann, die manchmal sogar ungeheuer weh tun kann.
Ich weiß es ja auch nicht, aber vielleicht ist es eben manchmal genau so.
Amen.
(gehalten am 9. Juli 1995 in der Schlosskirche Mannheim)