Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
4. Sonntag der Osterzeit - Lesejahr C (Joh 10,27-30)
In jener Zeit sprach Jesus: Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle, und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins. (Joh 10,27-30)
Montag morgen, 9.30 Uhr, mitten auf einer großen Kreuzung. Der Verkehr stockt, Dutzende von Fahrzeugen beginnen zu hupen. Ein Kind steht auf der Kreuzung. Unberührt von der plötzlichen Aufregung um ihn herum tappt der Dreijährige weiter, marschiert seelenruhig durch die mit dröhnenden Motoren und quietschenden Bremsen gerade noch haltenden Fahrzeuge, nichts kann ihn anscheinend aus der Ruhe bringen. Irgendwo, an einer Ecke des Platzes, gibt es einen Aufprall. Ein Fahrzeug ist auf die haltenden Wagen aufgefahren.
"Holt denn niemand das Kind dort weg," ruft eine Frau aus der Menge, die dort am Straßenrand zusammengelaufen ist, wo nun Dutzende von Schaulustigen das Ganze wie ein riesiges Spektakel betrachten. "Sind denn die Eltern nirgendwo!"
"Doch!" ruft eine andere Frau mit völlig ruhiger Stimme, "Ich bin seine Mutter!" - "Sind Sie denn wahnsinnig," schreit ein Mann hinter ihr, "Wie können Sie das Kind mitten auf die Kreuzung laufen lassen, und dabei seelenruhig hier am Straßenrand stehen?" - "Ich habe ihm gesagt, dass es gefährlich ist, auf die Kreuzung zu laufen", sagte die Mutter mit der gleichen seelenruhigen Stimme, "Ich habe ihm gesagt, dass es nicht empfehlenswert ist, das zu tun!" - Sagte es, und ging weiter...
Liebe Schwestern und Brüder,
eine unwirkliche Geschichte, eine Geschichte, von der ich mir selbst nicht vorstellen kann, dass sie jemals so stattfinden könnte. Welcher Vater und welche Mutter würden es tatsächlich fertig bringen, einfach zuzuschauen, wie sich ein Kind so in Gefahr begibt. Ich glaube, da sind wir uns einig. Das hat nichts damit zu tun, dass man ein Kind nicht respektieren würde, das hat nichts damit zu tun, dass man es nicht ernst nehmen würde, es gibt Situationen, da kann ich einfach nicht anders, als zuzupacken und es festzuhalten, und manches Mal sogar ganz kräftig zuzufassen, damit schlimmeres verhütet wird.
Mütter und Väter, die das nicht tun würden, die würden wir nicht verstehen, ja und ich denke, wir würden ihnen sogar, wie dieser Frau aus jener unwirklichen Geschichte, letztendlich die Fähigkeit absprechen, verantwortungsbewusst für ein Kind zu sorgen, ein Kind wirklich zu erziehen.
Sicher, das Kind mag das möglicherweise da und dort anders sehen, für das Kind mag die Hand der Eltern, die es ganz fest hält, wenn man über die Straße geht, etwas grausiges, restriktives und einengendes sein, etwas, von dem man sich am besten losreist, um wirklich frei und ungehindert zu sein.
Was das Kind angeht, da wissen wir aber, dass ein Kind das halt nun einmal nicht besser weiß, dass es später vielleicht einsehen wird, dass alles andere tatsächlich schlecht für es gewesen wäre, dass es im Augenblick halt schlicht und ergreifend zu klein ist, um wirklich begreifen zu können, um was es geht.
Was das Kind angeht, da wissen wir das. Was aber, wenn es plötzlich uns angeht?
Was, wenn jemand damit anfangen würde, uns zu unserem Glück zwingen zu wollen? Was, wenn es Situationen gäbe, in denen man mit uns, wie mit so einem Kind umspringt?
Genau das aber scheint ja die Situation zu sein die Jesus Christus immer wieder voraussetzt. Immer wieder spricht er davon, dass der Gott, den er verkündet, wie ein Vater ist - und für alttestamentlich geschulte Ohren, zu denen Jesus letztendlich spricht, war von jeher klar, dass das Vater-Sein und das Mutter-Sein auf Gott hin gesprochen zusammengehören.
Gott als Vater und Mutter, der sich wie Eltern um seine Kinder sorgt, wir aber dann gleichsam als diese unmündigen Kinder!
Und in einem zweiten Bild wird das ja noch deutlicher, in dem Bild nämlich, das er im heutigen Evangelium gebraucht: im Bild des Hirten und seiner Schafe. Der Gott, den Jesus Christus verkündet, das ist der Gott der sich wie ein Hirt um seine Schafe kümmert.
Wir also nichts anderes als diese Schafe. Ich höre da schon den Aufschrei der Massen. Denn wer lässt sich heutzutage noch als unmündiges Schaf bezeichnen! Keine Frage, eine Vorstellung, die auch mir irgendwo zuwider läuft. Wer will schon gerne Schaf sein, wer will schon gerne zugeben, dass er nicht selber wüsste, wo es lang geht, dass er nicht selber groß ist, dass er nicht selbständig sein Leben in die Hand nehmen kann.
Bei dem Bild vom Schaf brodelt auch mir der Protestschrei im Hals, würde auch ich gerne rufen, jetzt mach aber mal halblang. Zum Glück fällt mir zuvor meist das Kind auf dem Zebrastreifen ein, das Kind an der Hand seiner Mutter, dieses Kind, das sich mit aller Gewalt von dieser Hand losreißen will, und bei dem ich nur froh sein kann, dass die Mutter es wirklich ganz fest hält, froh sein, weil ich nicht wissen möchte, was ansonsten geschehen würde.
Kinder die etwas verständiger sind, die sehen meist ein, dass es oftmals sein Gutes hat, an die Hand genommen zu werden. Es ist in aller Regel ein Zeichen von Einsicht, Verständnis, ja wachsender Intelligenz, wenn Kinder begreifen lernen, dass die Fürsorge der Eltern etwas wichtiges ist, etwas, bei dem es dumm ist sich dagegen aufzulehnen, bei dem man viel eher dankbar dafür sein sollte, dass es dieses Für-mich-Sorgen der Eltern gibt.
Es gibt da Kinder, die das recht bald begreifen, die da vielleicht etwas intelligenter sind, als die anderen, in dieser Beziehung vielleicht sogar weit intelligenter als die Erwachsenen, als all die, bei denen der Rollladen schon heruntergeht, wenn sie das Wort von den Schafen nur hören.
Nehmen wir das Evangelium vom Hirten und von den Schafen doch als das, was es tatsächlich auch ist, als eine ungeheure Verheißung nämlich. Ist's denn nicht eine großartige Botschaft, dass ich eben nicht für alles und jedes sorgen muss, dass ich eben nicht alles machen muss, dass ich eben nicht alles verstehen muss, ja dass ich nicht einmal zu allem ja sagen muss, und dass ich trotzdem, nämlich von diesem Hirten geführt, dass ich trotzdem, näher ans Ziel komme?
Und geben wir's doch zu: das ist doch im Grunde auch genau der Gott, nach dem wir uns letzten Endes wirklich sehnen, der Gott, der uns auch da auffängt, wo wir daneben tappen, der um unsere Unzulänglichkeiten weiß, auch wo wir große Töne spucken, und der deshalb nicht sieben-, sondern sieben mal siebzig Mal, fünfe gerade sein lässt. Was für einen Gott wollen wir denn eigentlich, wenn nicht einen, der uns ganz fest bei der Hand nimmt, wenn es brenzlig wird.
Und genau diesen Gott verkündet uns Jesus Christus. Und das Reden von diesem Gott, und dementsprechend nicht zuletzt, das Reden vom Hirten und von den Schafen, das ist letztendlich seine grandiose Botschaft.
Es gibt halt wahrscheinlich nur zwei verschiedene Arten von Schafen, intelligente nämlich und etwas dümmere. Und die intelligenten Schafe, das wären dann die, die wissen, dass sie Schafe sind, und dass Schafe nun einmal eines Hirten bedürfen, eines Hirten, der sie führt, der sie beschützt und bei Krankheit auch aufopfernd pflegt. Die intelligenten Schafe, das wären dann die, die dankbar dafür sind, dass es diesen Hirten gibt, und die sich nicht länger einbilden, dass der Hirte sie in ihrem Schafsein beeinträchtigen würde. Die dümmeren Schafe aber, das wären die, die meinen, dass sie selber groß sind, dass sie den Hirten nicht brauchen und dass sie erst ohne ihn richtige, freie und ungebundene Schafe sind. Das wären die dummen Schafe.
Nur, wer wird denn schon ein dummes Schaf sein?
Amen.
(gehalten am 10. Mai 1992 in der Schlosskirche Mannheim)