Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
2. November - Allerseelen (2 Sam 19,32-35. 37)
Der Gileaditer Barsillai war aus Roglim herabgekommen und mit dem König an den Jordan gezogen, um ihn am Jordan zu verabschieden. Barsillai war sehr alt, ein Mann von achtzig Jahren. Er hatte den König versorgt, als dieser sich in Mahanajim aufhielt; er war nämlich sehr reich. Der König sagte zu Barsillai: Zieh mit mir hinüber, ich will für dich bei mir in Jerusalem sorgen. Doch Barsillai antwortete dem König: Wie viele Jahre habe ich denn noch zu leben, dass ich mit dem König nach Jerusalem hinaufziehen sollte? Ich bin jetzt achtzig Jahre alt. Kann ich denn noch Gutes und Böses unterscheiden? Kann dein Knecht noch Geschmack finden an dem, was er isst und trinkt? Höre ich denn noch die Stimme der Sänger und Sängerinnen? Warum soll denn dein Knecht noch meinem Herrn, dem König, zur Last fallen? (...) Dein Knecht möchte umkehren und in seiner Heimatstadt beim Grab seines Vaters und seiner Mutter sterben. (2 Sam 19,32-35. 37)
Die alten Menschen seien ihr ganz besonders wichtig, hat Elisabeth Rieger die Worte Doña Agustinas übersetzt, als die Katechetin aus unseren Partnergemeinden in Peru letzthin bei uns war. An den Essen für die alten Menschen wolle sie nicht sparen, wenn es darum ginge, die Kosten für die Schüler- und Altenspeisung zu überprüfen. Wenn die alten Menschen Hunger hätten, dann könnten sie nämlich nicht sterben.
Sterben kostet viel Kraft!
Liebe Schwestern und Brüder,
dieser Satz geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf: Sterben kostet viel Kraft! Wer hungert, kann nicht sterben.
Was hat Hunger mit Sterben zu tun?
Gut, das Sprechen vom Lebenshunger ist ja auch uns nicht fremd: dass Menschen von einem Hunger nach Leben angetrieben werden. Und solange dieser Lebenshunger nicht gestillt ist, tun wir uns schwer mit dem Sterben. Wir lieben dieses Leben und wir hängen an ihm. Erst, wenn wir vom Leben nichts mehr erwarten, wenn uns Krankheiten zu Boden drücken und nichts mehr so geht, wie wir uns das erhoffen und wünschen, erst dann sprechen wir davon, dass ein Mensch gehen darf, der Tod sogar Erlösung bedeutet.
Und wenn ein Mensch nach langem Leben - alt an Jahren und am Ende einer erfüllten Zeit - zufrieden auf sein Leben zurückblicken kann, dann mag er da und dort sogar regelrecht lebenssatt werden. Das gibt es, dass der Hunger nach Leben gestillt ist - so wie es die Lesung eben vom alten Barsillai schildert, der nun in seinem biblischen Alter von diesem Leben kaum mehr etwas zu erwarten hat und es voller Zufriedenheit in Gottes Hand zurückgeben kann.
Aber das ist nur das eine. Doña Agustina sprach noch einmal von etwas anderem.
Sterben kostet Kraft, hat sie gesagt, und deshalb gilt es, sich für das Sterben zu stärken.
Sie meinte das ganz real, blickte auf den Hunger der alten Menschen, die sie tagtäglich vor Augen hat. Sie sah auf den Kampf, den Sterben bedeuten kann. Und wie oft kämpfen Menschen tage- und wochenlang und liegen schweißgebadet in ihren Betten.
Sterben kostet viel Kraft!
Aber offenbar nicht nur körperliche Kraft.
Nicht umsonst wünschen wir "Kraft!", wenn Menschen vor einem schweren Eingriff stehen, unheilbar krank sind oder gar realisieren müssen, dass sich das Leben dem Ende zuneigt. Da braucht es eine ganz besondere, eine innere Kraft.
Und diese Kraft gibt es!
Gott sei Dank dürfen wir erleben, wie Menschen davon sprechen, dass sie den Weg von Hoffen und Bangen, von Enttäuschung und wieder neuer Hoffnung, den so manche Krankheit mit sich bringt, durchstehen konnten. Sie haben eine Kraft gefunden, die es ihnen ermöglicht hat. Und nicht wenige schöpfen genau diese Kraft aus ihrem Glauben - eine Kraft, die ihnen all dies zu ertragen erst ermöglicht.
Es gibt diese Kraft und man kann sie gewinnen. Daran sollten wir nicht sparen. Das Leben bietet uns eine Fülle von Möglichkeiten. Von Kindheit an haben wir die Chance, in diesen Glauben hineinzuwachsen.
Nicht nur Glaubenssätze auswendig zu lernen - inwendig, inwendig müssen wir sie haben; in unser eigenes Leben hinein gilt es sie hinein zu übersetzen, spüren zu lernen, was sie für jeden und jede Einzelne von uns ganz persönlich bedeuten können. Es gilt, sich immer wieder aufs Neue zu verinnerlichen, dass ich deshalb durch dieses Leben gehe, weil ich von Anfang an geliebt bin und von meinem Gott jeden Tag aufs Neue gehalten und getragen werde - durch manches tiefe Tal und manchen dunklen Keller hindurch - und dass dieser Gott, dem ich mein Leben verdanke, seine Hand nie von mir zurückziehen wird, mich selbst durch den Tod hindurch tragen wird.
Lassen wir keine Gelegenheit aus, uns in diesem Glauben bestärken zu lassen und zu stärken. Denn Gott selbst schenkt uns darin die Kraft, die wir brauchen: die Kraft zum Leben - und wenn es an der Zeit ist, wenn es in Gottes Augen Zeit dazu ist, ganz besonders alle Kraft zum Sterben.
(gehalten am 1. November 2010 in der Peterskirche, Bruchsal)