Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
Weihnachten - Am Tag
Die Hoffnung ist kein Einzelkind; sie hat eine kleine Schwester. Kennen Sie die kleine Schwester der Hoffnung?
Es ist die Sorge!
Liebe Schwestern und Brüder,
hätten Sie jetzt keine Masken auf, ich würde wohl noch viel deutlicher in ungläubige Gesichter blicken. Was soll Sorge mit Hoffnung zu tun haben?
Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Wenn Sie am Ziel angelangt sind, gibt es keine Hoffnung mehr. Sie brauchen auch keine. Dann wird Ihnen schließlich das Ergebnis präsentiert: Sie haben das Ziel erreicht oder Sie haben es eben verfehlt.
Wenn Schüler auf die Rückgabe der Klassenarbeit warten, können Sie hoffen, solange hoffen, bis sie das Arbeitsblatt mit der Note auf dem Tisch liegen haben. Dann gibt es keine Hoffnung mehr. Dann gibt es nur noch ein Ergebnis: Grund zur Freude oder Auslöser für tiefe Enttäuschung.
Vielleicht ist das Osterfest deshalb auch mit ganz anderen Emotionen besetzt als Weihnachten. Ostern steht für das Ziel, für das Ende der Reise. An Ostern ist alles vollbracht und der Blick in den Himmel steht offen. An Ostern brauchen Sie keine Hoffnung mehr. Da gibt es nur noch Dankbarkeit und große Freude.
Weihnachten ist ganz anders. Weihnachten steht für einen Anfang. Ein Kind wird geboren. Und wenn ein Kind geboren wird, dann stehen alle Wege der Welt offen.
Was sich Eltern alles ausmalen, welche Träume sie haben, was aus ihrem Kind wohl alles einmal werden wird, wie es ihm gehen, was es erleben wird. Am Anfang ist noch alles offen. Nichts steht fest. Aber alles kann man hoffen.
Hand in Hand mit der Hoffnung gehen aber die Sorgen. Ob das wirklich so werden wird? Vielleicht wird auch alles ganz anders. Welche Krankheiten werden alle drohen, welche Anfeindungen und Schicksalsschläge? Wird es wirklich glücklich werden, das Kind?
Und diese Fragen werden mit den Jahren nicht kleiner. Sie kennen den Satz: kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen.
Die Sorgen hören niemals auf. Auch nicht für Sie persönlich.
Immer wenn Sie etwas beginnen, schwingen Sorgen mit - mal mehr und mal weniger. Sie werden sich immer fragen, ob Sie es auch wirklich schaffen werden, ob Sie das Ziel auch tatsächlich erreichen.
Aber wenn Sie es beginnen, dann haben Sie auch Hoffnung. Hoffnung weicht erst, wenn es Gewissheit gibt, wenn sie von der Enttäuschung niedergedrückt oder von großer Dankbarkeit darüber, dass man das Ziel wirklich erreicht hat, abgelöst werden darf.
Solange Sie aber noch nicht am Ziel sind, solange begleiten Sie die kleinen und die ganz großen Sorgen.
In diesem Jahr wird das ganz besonders augenfällig. Selten gab es ein Weihnachtsfest, das so von Sorgen begleitet wurde wie das diesjährige.
Wie wird das weitergehen? Werden all die Maßnahmen am Ende wirklich greifen? Kommen wir einigermaßen glimpflich davon? Wird unsere Gesellschaft das irgendwie überleben - wirtschaftlich, kulturell? Wird die Geschichte, dass man jeden anderen als potentielle Infektionsgefahr betrachtet, dann auch wirklich wieder einmal aufhören? Wird Nähe und Vertrauen, das, was wir als Normalität bezeichnen, am Ende wieder zurückkehren?
Viele von uns sind voller Sorgen. Und diese Sorgen sind berechtigt.
Solange wir uns aber sorgen, solange gibt es kein Ergebnis, solange steht noch nichts fest, solange ist noch alles offen, dürfen wir alle ganz fest hoffen. Denn wo es Sorgen gibt, dort gibt es auch noch Hoffnung.
Und die Hoffnung, das ist die große Schwester der Sorge. Sie lässt uns weitergehen, denn sie sichert uns eine Zukunft.
Vielleicht ist Weihnachten deshalb so gefühlsbetont, vielleicht ist Weihnachten genau deshalb das große Fest in unserem Jahreslauf. Nicht als Fest der Liebe - als Fest der Hoffnung!
Weihnachten ist nämlich das Fest des Anfanges und mit jedem Anfang ist Zukunft verbunden.
Natürlich ist jeder Anfang auch Quelle von Ungewissheit und Unsicherheit. Die Geburt eines Kindes, der Beginn eines neuen Lebens, jedes neue Jahr und jeder neue Tag bringen immer wieder neue Sorgen mit sich.
Aber solange wir diese Sorgen haben, solange haben wir auch eine Zukunft.
Und solange es Zukunft gibt, solange gibt es auch Hoffnung.
Amen.
(gehalten am 25. Dezember 2020 in den Kirchen St. Marien, Ettenheimweiler,
und St. Bartholomäus, Ettenheim)