Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


7. Sonntag der Osterzeit - Lesejahr B (Joh 17,6a. 11b-19)

In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und betete: Vater, ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir. Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt. Aber jetzt gehe ich zu dir. Doch dies rede ich noch in der Welt, damit sie meine Freude in Fülle in sich haben. Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, wie sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind. (Joh 17,6a. 11b-19)

Liebe Schwestern und Brüder,

er ist wohl der bekannteste der ägyptischen Pharaonen und würde bei einer Umfrage mit großer Sicherheit am häufigsten genannt werden. Ich meine den "Tutanchamun", der - obschon eigentlich recht unbedeutend - in unseren Tagen Weltruhm erlangt hat. Die Schätze, die wir mit seinem Namen in Verbindung bringen, haben ihm mittlerweile Unsterblichkeit verliehen. Ohne sie hätte man ihn, dessen eigentliche Leistung sich schließlich beinahe auf seinen Tod und sein Begräbnis reduzieren lässt, mit Sicherheit schon lange vergessen. Aber diese Fülle an Dingen, die in seinem Grab bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist, hält die Erinnerung an ihn wach und sorgt dafür, dass sein Andenken bewahrt bleibt.

Einem seiner Vorgänger ist es da ganz anders ergangen. Und dabei war er weit bedeutender, als jener Tutanchamun. Den Namen "Echnaton" kennen trotzdem heute fast nur noch die, die sich eingehender mit der Geschichte Ägyptens beschäftigt haben. Echnaton hatte das Pech, dass kaum etwas von ihm für die Nachwelt erhalten blieb. Und das Interessante an seinem Fall ist, dass nicht der Zufall, nicht irgendwelche Grabräuber und auch nicht der Zahn der Zeit seine Erinnerung verblassen ließ, Echnatons Andenken wurde ausgelöscht, und zwar ganz systematisch und bewusst. Die Priester Ägyptens, mit denen er sich überworfen hatte und die seine Reformen verurteilten, sorgten dafür, dass sein Name aus den Inschriften entfernt, seine Standbilder zerstört und seine Bauten eingerissen wurden. Das Andenken Echnatons sollte aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden. Nichts, was an ihn erinnern könnte, sollte erhalten bleiben.

Eine Übung, die in der Geschichte immer wieder beobachtet werden kann, selbst bis in unsere Tage: Denken Sie nur daran, wie man z. B. das Bild Trotzkijs aus dem bekannten historischen Foto, das ihn gemeinsam mit Lenin zeigte, wegretuschierte, ein Vorgang, der im Grunde genau auf der gleichen Ebene liegt wie das Schicksal das vor Jahrtausenden den Echnaton traf. Zu allen Zeiten scheinen Menschen ganz bewusst versucht zu haben, das Ob und das Wie der Erinnerung an bestimmte Persönlichkeiten zu beeinflussen.

Warum ich das hier erzähle? Nun, das ist ein Punkt, der mir in der Auseinandersetzung mit diesem alles andere als einfachen Abschnitt des Johannesevangeliums tatsächlich ganz neu aufgegangen ist. Ich hab das vorher auch nicht gewusst, aber anscheinend - eine ganze Reihe von Exegeten nimmt das zumindest als sehr wahrscheinlich an -, anscheinend gab es so ähnliche Vorgänge auch in der frühesten Geschichte unseres Christentums. Bewusst oder unbewusst versuchte man auch hier durch die Art, wie man das Andenken eines Menschen bewahrte, Einfluss darauf zu nehmen, ob und wie er der Nachwelt in Erinnerung blieb. Deutlich wird das für mich ganz besonders an der Gestalt des Judas Iskarioth.

Natürlich war der Judas so stark mit dem Leben und vor allem dem Tod Jesu verbunden, dass man ihn nicht wie Trotzkij und Echnaton einfach hätte ausradieren können. Aber man konnte so von ihm sprechen, dass jeder von vorneherein erahnen sollte, was dieser Mann für ein Mensch gewesen sein muss. Immer - soweit ich es sehe - wenn nicht sowieso gerade berichtet wird, wie Judas den Jesus verriet, immer wird bei der Erwähnung seines Namens gleich hinzugefügt, dass das der war, der ihn verraten sollte oder der ihn später ausgeliefert hat oder zumindest, dass er sowieso immer schon ein Dieb gewesen und die gemeinsame Kasse veruntreut habe.

Da lässt sich doch nun folgendes vermuten, auch wenn das jetzt ein etwas gefährlicher Vergleich sein mag: Genauso wie die sowjetischen Machthaber durch das Manipulieren des Fotos vergessen machen wollten, dass dieser Trotzkij etwas mit ihrer Sache zu tun gehabt habe, genauso wie die ägyptischen Priester durch das Auslöschen der Erinnerung an Echnaton sagen wollten, dass es nicht wert sei, an diesen Menschen zu denken, auf ganz ähnliche Weise, könnten doch die ersten christlichen Schriftsteller durch die Art, wie sie von ihm berichteten, auch versucht haben, den Judas beim Leser und Hörer gleich ins richtige Licht zu setzen.

Und wenn wir einmal davon ausgehen, dass das durchaus möglich ist, dass sogar sehr wahrscheinlich den Verfassern der christlichen Überlieferung daran gelegen war, den Judas nicht als sympathischen jungen Mann erscheinen zu lassen, dann könnte das ungeheure Auswirkungen auf das Verständnis des heutigen Evangelientextes haben.

Zunächst einmal klingt das Wort Jesu aus der heutigen Perikope - für mich zumindest - ja furchtbar grausam. "Der Sohn des Verderbens ist verloren gegangen, damit die Schrift sich erfüllt!" Da schwingt für mich unbarmherzige und eindeutige Verurteilung mit, dieser Nichtsnutz, dieser von vorneherein Verdammte, dieser Sohn des Verderbens, der ist - und man möchte fast hinzufügen - der ist natürlich, wie es der Natur der Sache entspricht, verloren gegangen.

Gut, als Zornesausbruch Jesu vielleicht verständlich, aber an dieser Stelle, in diesem Zusammenhang? Passt diese Äußerung tatsächlich in das Gesamt dieses Evangelienabschnittes? Wir stehen in Johannes 17 unmittelbar vor der Verhaftung Jesu und Jesus nimmt Abschied, Abschied von denen, die die ganze Zeit mit ihm zusammen waren, von seinen Jüngern. Und er tut dies bezeichnenderweise in einem einzigartigen, gefühlsbetonten Gebet, in einem Fürbittgebet für seine Jünger. "Ich bitte Dich darum, dass Du sie bewahrst!" Darum, dass der Vater nun ganz besonders über sie wache, wo er doch von ihnen gehen müsse, darum, dass jener sie jetzt behüte und beschütze und alles Böse von ihnen fernhalte, darum betet Jesus nun. Ja, und nicht nur darum, dass er fernhalte: "Heilige Sie!", bittet er, und das heißt: Erfülle sie! Vollende sie! Mache sie zu vollkommenen, zu richtigen Menschen! Gib ihnen all das, was ihnen noch fehlt. "Bewahre und heilige Sie!"

Und er denkt in dieser Situation des Abschieds zurück, er spricht's für sich selbst noch einmal aus. "Bisher hab ich euch bewahrt, ich bin bei euch gewesen, die ganze Zeit, habe mich um euch gesorgt, hab mich unter großen Anstrengungen darum gemüht, dass keiner von euch verloren ging. Und es ist ja auch keiner verloren gegangen, außer..."

Ja und jetzt ein Zornesausbruch? Jetzt dieses Wort vom "Sohn des Verderbens", dieser plötzliche Wandel in seiner Stimmung, nur um dann gleich wieder im Ton des Abschiedsschmerzes weiterzufahren? Ich krieg' das menschlich und ich krieg' das theologisch nicht zusammen!

Aber was, wenn Jesus nicht gesagt hätte: "außer dem Sohn des Verderbens!" Was, wenn hier tatsächlich die Spuren der Überlieferungsgeschichte sichtbar würden? Was, wenn die Menschen, die dieses Jesuswort weitergaben und bewahrten, tatsächlich von diesem Judas nur noch als vom Sohn des Verderbens sprachen, und die heutige Gestalt dieses Satzes, letztendlich auf ihre Art der Weitergabe zurückgeht, was also, wenn Jesus selbst ursprünglich nicht vom "Sohn des Verderbens", sondern ganz einfach von "Judas" gesprochen hat, und dieser Satz in seinem Mund demnach ursprünglich einmal geheißen hat: "Und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Judas, und das, damit die Schrift sich erfüllt, weil es eben geschehen musste"?

Der Charakter des Textes wird sofort ein anderer, es geht dann nicht mehr um Zorn. Judas wird plötzlich hineingenommen in diesen Abschiedsschmerz. Es heißt jetzt: Du gingst verloren, irgendjemand musste es zwar tun, aber warum ausgerechnet du?

Mit der Vorstellung von einem Menschensohn, der sich den Sohn des Verderbens, den von vorneherein Verdammten, in seine Jüngerschar holt, nur um das Werkzeug seiner Auslieferung bei sich zu haben, mit dieser Vorstellung habe ich meine Schwierigkeiten. Der Jesus von Nazaret aber, der den Judas gern hatte, so wie er alle seine Jünger mochte, der Jesus von Nazaret, der nun, kurz vor der Verhaftung, als er sich von den Jüngern verabschiedete, als er zurückblickte, der nun voller Wehmut und Trauer daran denkt, dass da einer verloren ging, dass da einer, weil er den Weg Jesu nicht mehr verstand, "Nein", zu ihm sagte und andere Wege ging, der Jesus von Nazaret, der diesen einen, in dem Maß wie er jetzt voll Trauer an ihn denkt, der diesen einen in dem gleichen Maß immer noch mag, dieser Jesus von Nazaret, das ist der Christus, so wie ich ihn glaube.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 12. Mai 1991 in der Schlosskirche Mannheim)