Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
4. Sonntag der Osterzeit - Lesejahr B (Joh 10,11-18)
In jener Zeit sprach Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen. (Joh 10,11-18)
In Ungersheim, in der Nähe von Mulhouse im Elsass, gibt es ein großartiges Freilichtmuseum. Die unterschiedlichsten Haustypen des Elsass, wertvolle Gebäude, die ansonsten kaum hätten erhalten werden können, sind dort zusammengetragen, wieder aufgebaut und zugänglich gemacht worden. Ein Gang durch das ganze Elsass der vergangenen Jahrhunderte ist dort auf engstem Raum möglich.
Was ansonsten wohl kaum auffallen würde, sticht dabei regelrecht ins Auge - und zwar wenn man von den Häusern des Unterelsass zu denen des Oberelsass hinübergeht. Die Häuser aus dem Oberelsass stehen da mit Gärten drum herum, einer kleinen, oft offenen Scheune, und - ja, und keiner Mauer.
Die ist dafür bei denen aus dem Niederelsass umso größer. Ein riesiges Tor, durch das die mächtigen Leiterwagen bequem hindurchfahren konnten, ist der einzige Zugang. Ansonsten ist alles ringsum abgeschlossen und gut geschützt.
Denn im Niederelsass gab es auch etwas zu schützen. Die Bauern waren in aller Regel recht wohlhabend und mussten eben auf ihren Besitz aufpassen. Im Oberelsass brauchte man keine Mauern, denn es gab nichts, worauf man hätte aufpassen müssen. Die Menschen waren arm und wo nichts ist, kann man auch nur schwerlich etwas holen.
Liebe Schwestern und Brüder,
Mauern und Zäune gibt es nur dort, wo man etwas schützen muss. Und wo man Angst hat, dass andere sich ansonsten bedienen würden, jene nämlich, die weniger haben, die neidisch auf den Besitz der anderen schielen und am liebsten auch etwas vom Kuchen abhätten. Neider gibt es nämlich viele, wenn einer zu Reichtum und Wohlstand gelangt ist.
Wie stand dieser Tage in den BNN? Zwei Drittel der Deutschen haben mit Neid zu kämpfen, sind neidisch auf die, die mehr vom Leben gesegnet wurden als man selbst. Und Sie wissen alle noch aus Ihrem Religionsunterricht, dass so etwas nicht sein dürfte, dass Neid im Sinne der Gebote Gottes Sünde ist, sogar zu den Hauptsünden gehört.
Eines aber, das sollte mindestens genauso wenig sein, ganz besonders nicht in einer Gesellschaft, die eine christliche Gesellschaft sein will und so stolz auf ihre Wurzeln in Jesus Christus und den Glauben an ihm ist. In einer solchen Gesellschaft dürfte eines nicht passieren: Dass einige nämlich gezwungen sind, Mauern zu bauen, Zäune zu errichten, um sich vor denen, die um sie herum wohnen, vor denen, die nichts mehr haben, zu schützen. Dass einige alles, die große Masse aber immer weniger hat, das kann nicht sein, nicht unter Christen, nicht einmal unter menschlich denkenden Menschen.
Wenn es eine Entwicklung gibt, die mich in den letzten Jahren mit immer größerer Sorge erfüllt, dann ist es genau diese. Security-Services haben Hochkonjunktur, denn immer mehr Anwesen müssen gut bewacht werden. Und auf der anderen Seite kommt es immer häufiger vor, dass es am Freitagnachmittag am Pfarrhaus klingelt, weil das Guthaben im Schlüssel, mit dem man zuhause Strom bekommen kann, leer ist, und Geld ist nicht mehr da, so dass übers Wochenende der Strom abgestellt ist. Was aber macht man bei uns mittlerweile ohne Strom?
Die Schere zwischen Haben und immer weniger Haben wird immer größer und wer morgen die Arbeit verliert, ist nicht mehr weit davon entfernt, übermorgen gar nichts mehr zu haben, selbst das Dach über dem Kopf zu verlieren. Das kann doch nicht sein!
Die Ursachen für Gewalt und Terror, die Ursachen für blutige Auseinandersetzungen werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten genau in dieser Entwicklung zu finden sein, nicht in einer Bedrohung durch arabische Staaten, nicht in einer Gefahr durch andere Religionen, genau in dieser sozialen Ungerechtigkeit wird der Zündstoff liegen, der immer Anlass zu Mord und Totschlag liefern wird.
Eine Gesellschaft, die das hinnimmt, die hier den Anfängen nicht wehrt, hat mit einer christlichen Gesellschaft nichts gemein. Nicht umsonst verwendet Jesus im heutigen Evangelium das Bild von der Herde. Eine Herde hat ein gemeinsames Ziel und auf dem Weg dorthin muss die Weide für alle Glieder dieser Herde die gleiche sein. Was wäre das für ein Hirt, der zulassen würde, dass sich einige um ihre fetten Weiden Zäune zu bauen beginnen und andere vom Grasen abhalten. In einer Herde kann es nicht darum gehen, dass einige als erste ans Ziel kommen und die große Masse hinterherhinkt. Wenn Hauen und Stechen in einer Herde um sich greift, dann ist die ganze Herde zum Untergang verdammt. Denn eine Herde ist allein dann erfolgreich unterwegs, wenn alle versorgt sind.
Wundert es einen da etwa noch, dass der biblische Erfolgsbegriff mit unserer Vorstellung von Gewinn und Gewinnmaximierung absolut nichts gemein hat? Wenn alle versorgt sind, dann hat man in den Augen der Bibel erfolgreich gewirtschaftet. Das ist das biblische Prinzip, und das ist auch das Prinzip, auf dem allein eine Gesellschaft gegründet sein kann, die den Namen "christlich" verdient.
Dass wir dieses biblische Prinzip wieder neu entdecken, dass wir das Beispiel des Evangeliums verstehen lernen und dem Vorbild Christi wirklich nacheifern, das wünsche ich uns nicht nur, es wird zum Überlebensprinzip werden. Es wird absolut notwendig sein, um unseretwillen und um des Friedens willen. Wirklichen Frieden in der Welt wird es anders nämlich nicht geben, nicht anders, als dass alle versorgt sind.
Amen.
(gehalten am 7. Mai 2006 in der Pauluskirche, Bruchsal)