Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


31. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr B (Mk 12,28b-34)

In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen. (Mk 12,28b-34)

Priester und Gemeinde würden einen geschlossenen Kreis um den Altar bilden, schrieb Joseph Ratzinger, ein Kreis, der nicht mehr nach vorne und oben aufgebrochen sei, sondern sich in sich selber schließe.

Er machte keinen Hehl daraus, dass ihm das nicht gefallen hat. Joseph Ratzinger hätte es gerne gesehen, wenn wieder - wie früher - beim Gottesdienst alle zum Altar hin blicken würden.

Er hätte das gerne wieder geändert, so dass man sich eben nicht mehr zum Kreis schließt, sich nicht mehr gegenseitig anschaut, sondern zum Herrn hin ausrichtet - wie er schreibt - und der Priester deshalb auch wieder mit dem Rücken zum Volk die Messe feiert.

Liebe Schwestern und Brüder,

Joseph Ratzinger war ein gescheiter Kopf. Er war darin geübt, Dinge bis zum Schluss zu durchdenken.

Und es gab für ihn wohl kaum etwas Schlimmeres, als dass mich etwas vom Herrn, von Gott selbst weglenken würde. Menschen, die sich im Kreis schließen, seien auf sich selbst fixiert. Sich gegenseitig anzuschauen lenkt mich ab vom Blick auf den Herrn.

Joseph Ratzinger war ein gescheiter Kopf. Manchmal scheint es mir aber, als wäre er da und dort gleichsam zum Gefangenen seines eigenen Kopfes geworden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jener Jesus von Nazareth bei solchen Ausführungen recht irritiert dreingeschaut hätte.

Die beiden Sätze, die dieser Jesus im heutigen Evangelium in einem Atemzug genannt hat, stehen im Alten Testament - und das war die Bibel Jesu - nicht wirklich nebeneinander. Da liegen Dutzende von Seiten dazwischen. Und im altestamentlichen Kontext haben die zunächst einmal auch gar nichts miteinander zu tun.

Jesus fügt sie aber offenbar ganz bewusst zu einem einzigen Doppelgebot zusammen. Und er sagt ausdrücklich: Das ist nicht das Erste und wichtigste, dass man Gott von ganzem Herzen liebt - und dann kommt das Zweite, man solle halt auch noch den Menschen lieben; er sagt ausdrücklich: beides hat exakt den gleichen Stellenwert!

Und wer das eine gegen das andere ausspielt, hat diesen Jesus von Nazareth schlichtweg nicht verstanden.

Es waren für mich immer mit die traurigsten Situationen, wenn mir Menschen, häufig Frauen, gesagt haben: "Ach Herr Pfarrer, es tut mir so leid, ich kann halt sonntags nicht mehr zum Gottesdienst kommen. Ich muss doch meine Mutter pflegen. Ich kann sie doch nicht allein lassen."

Es waren für mich immer mit die traurigsten Augenblicke. Und ich habe mich dabei gefragt, wie sehr wir doch an diesem Jesus von Nazareth in den vergangenen Jahrhunderten vorbei-verkündigt haben.

Wie oft hat man mich ungläubig angeschaut, wenn ich dann gesagt habe, dass, was diese Frauen da tagein tagaus tun, weit mehr Gottesdienst ist, als wenn sie am Sonntag in die Kirche gehen würden.

Jesus Christus ist nicht müde geworden, zu betonen, dass wir ihm genau in unserem Gegenüber, im anderen Menschen, in dem Menschen begegnen, der uns jetzt gerade braucht. Für ihn steht überall der Mensch im Mittelpunkt, weil wir Gott immer im anderen Menschen begegnen.

Und wie notwendig wäre es, wie notwendig wäre es gerade heute, dass wir Menschen den Kreis wirklich schließen. Uns im Kreis gegenseitig in die Augen schauen, allen Hass und alle Hetze aus unserer Mitte verbannen und in unserem Gegenüber den Herrn entdecken.

Wie notwendig wäre es, uns solidarisch die Hände zu reichen, denen, die mit uns zusammenleben, all denen, mit denen wir auf dem ganzen Erdenrund auf ein gedeihliches Miteinander angewiesen sind, und denen, die um Hilfe bittend vor unserer Türe stehen.

Es geht nicht darum, die tätige Nächstenliebe gegen den feierlich gestalteten Festgottesdienst auszuspielen. Aber ohne diese wirklich gelebte Liebe zum Nächsten, wäre jeder noch so festliche Gottesdienst nichts.

Für Jesus von Nazareth gibt es keine Liebe zu Gott ohne die Liebe zum anderen Menschen. Ihn hat kein Mann und keine Frau, ihn hat kein Mensch jemals von Gott abgelenkt. Und er hat uns gelehrt, diesem Gott im Nächsten zu begegnen.

Ich bin froh, dass wir uns gemeinsam um den Altar versammeln dürfen, den Kreis wirklich schließen, uns gegenseitig in die Augen sehen und darin etwas von Gott entdecken dürfen. Ich bin froh, weil ich davon überzeugt bin, dass uns das absolut nicht von diesem Gott, den Jesus von Nazareth verkündet hat, ablenkt. Ich bin davon überzeugt, dass wir genau dadurch diesem Gott ausgesprochen nahe sind.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 2. und 3. November 2024 in Kirchen der Seelsorgeeinheit Bruchsal-Michaelsberg)