Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


16. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr B (Jer 23,1-6)

Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen - Spruch des Herrn. Darum - so spricht der Herr, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt kümmere ich mich bei euch um die Bosheit eurer Taten - Spruch des Herrn. Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide und sie werden fruchtbar sein und sich vermehren. Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen - Spruch des Herrn. Siehe, Tage kommen - Spruch des Herrn -, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit. (Jer 23,1-6)

Haben Sie noch Hoffnung?

Nein ich meine jetzt nicht für Sie persönlich, Ihren Alltag und die Dinge, die Sie jetzt alle zu bewältigen haben.

Ich meine: Haben Sie noch Hoffnung so für das Große und Ganze?

Meinen Sie wir schaffen das noch, dass einmal niemand auf der Welt mehr Hungern muss?

Oder dass alle Menschen in Frieden miteinander leben werden?

Und glauben Sie, dass wir das wirklich hinbekommen, das mit dem Klimawandel und dass wir die Erderwärmung doch noch rechtzeitig stoppen?

Und haben Sie die Hoffnung, dass unsere Kirche noch einmal die Kurve kriegt?

Haben Sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich in Sachen Reformen etwas tut?

Und hoffen Sie noch darauf, dass Kirchenentwicklung 2030 wirklich der große Wurf wird und nicht einfach zur Kirchenabwicklung gerät?

Haben Sie noch die Hoffnung, dass es wirklich einen neuen Aufbruch gibt.

Liebe Schwestern und Brüder,

ich habe in den letzten Monaten oft an mein erstes Studienjahr gedacht. Damals hatten wir im Sommer einen Ferienkurs. Und dabei hat uns der Trierer Alttestamentler Ernst Haag einen Studientag über die Propheten gehalten.

Am beeindruckendsten für mich waren seine Ausführungen über den Propheten Jeremia. Er hat uns diesen Menschen nahe gebracht, der nie Prophet werden wollte, dem es ein Graus war, immer wieder aufzutreten und die Menschen zu warnen, der Gesellschaft seiner Zeit vor Augen zu führen, dass es unweigerlich in die Katastrophe führen würde, wenn man so weitermache wie bisher.

Jeremia hasste es, immer Recht zu behalten und erleben zu müssen, dass sich all die Schreckensszenarien, die er vorausgeahnt hat, tatsächlich ereigneten. Seine eigene Familie hat ihn deshalb verfolgt. Mit seinem Gott hat er gehadert und kam doch nicht von ihm los.

Und dann stand er vor dem Trümmerhaufen Jerusalems, das von den Babyloniern völlig vernichtet wurde, weil niemand auf Menschen wie Jeremia hören wollte. Und die wenigen, die überlebten, zwangen ihn mit ihnen nach Ägypten zu fliehen - gegen seine ausdrückliche Warnung, dass sie dort keine Zukunft haben würden.

Auch hier sollte er Recht behalten. Man hat nie mehr etwas von dieser Gruppe die nach Ägypten geflohen war, man hat nie mehr von Jeremia gehört.

Ernst Haag hat diesen Abschnitt überschrieben mit den Worten "Solidarität mit einem Volk ohne Zukunft und Hoffnung".

Ich musste in den letzten Monaten oft an diesen Propheten Jeremia denken. Weiß nicht jeder und jede mittlerweile, woran es krankt in unserer Gesellschaft - genauso wie unserer Kirche?

Wissen wir nicht alle darum, was wir letztlich tun müssten, um das Schlimmste zu verhindern?

Gehen wir nicht - genauso wie zu Zeiten eines Jeremia - sehenden Auges auf den Abgrund zu? Ganz getreu dem Motto: Wir wissen, dass wir auf das falsche Gleis geraten sind, also erhöhen wir mal die Geschwindigkeit.

In solch einer Situation entwirft Jeremia ein großartiges Szenario. Er verheißt die Vertreibung der falschen Hirten. Er verheißt einen guten Hirten, Gott selbst, der sich seiner Herde annehmen wird. Er blickt auf die Zeit nach der Katastrophe - einer Katastrophe, von der er durchaus weiß, dass sie vermutlich nicht abzuwenden ist. Und er verleiht seinem Vertrauen Ausdruck, dass nur noch Gott selbst das Ruder herumreißen kann, und dass - egal was auch geschieht - Gott selbst da sein wird, um uns aufzufangen.

Hatte Jeremia selbst noch Hoffnung? Hat er daran geglaubt, die Wende zum Positiven selbst noch zu erleben? Ich weiß es nicht. Und - ehrlich gesagt - ich glaube es auch nicht.

Hoffnung hatte Jeremia keine mehr, aber er hatte eine Sehnsucht und diese Sehnsucht trieb ihn an.

"Solidarität mit einem Volk ohne Zukunft und Hoffnung", so hatte Ernst Haag die Person des Jeremia umschrieben.

Vielleicht hatte ihn die Hoffnung verlassen, aber seine Sehnsucht, seine Sehnsucht hat ihn nicht getrogen.

Diese Sehnsucht treibt auch mich. Auch wenn ich vieles selbst nicht mehr zu hoffen wage, die Sehnsucht bleibt.

Die Sehnsucht stirbt zuletzt.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 17./18. Juli 2021 in den Kirchen St. Konrad und Hl. Kreuz, Karlsruhe)