Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
12. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr B (Mk 4,35-41)
An jenem Tag, als es Abend geworden war, sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen? (Mk 4,35-41)
Ich glaube es ging um Karl Rheintaler und seine Vertonung des 121. Psalmes. Ein Mannheimer Chor studierte sie ein. Und eine junge Chorsängerin stolperte gleich über die erste Zeile: "Siehe, der Hüter Israels schläft noch - schlummert nicht."
Sie konnte einfach nicht glauben, was da in der Bibel stehen sollte: Gott würde nicht schlummern, er würde sogar schlafen! Dabei würde schlummern ja noch gehen, aber zu sagen, dass Gott noch schlafe, das sei ja ungeheuerlich.
Und als sie dann in einer alten Übersetzung von Moses Mendelssohn nachlas, die bei ihrer Großmutter im Regal stand, fand sie es sogar noch deutlicher ausgedrückt. Dort stand dann sogar: Der Hüter Israels schläft, er schlummert nicht!
Liebe Schwestern und Brüder,
ich konnte sie beruhigen, als sie mich ganz aufgeregt mit dem Problem des angeblich schlafenden Gottes konfrontierte. Letztendlich war es nämlich kein Problem mit Gott und auch keines mit der Bibel. Es gab lediglich ein Problem mit einem Komma. Sie hatte es fälschlicherweise gelesen, obwohl gar keines da stand.
Sie hatte den Text so verstanden: Gott schläft noch - Komma - schlummert nicht. Dabei stand da, Gott schläft noch schlummert nicht, was - wenn man den Text des 19. Jahrhunderts in unser Sprachempfinden überträgt - soviel bedeutet wie: Es ist so, dass Gott weder schläft noch schlummert!
Und auch die alte Übertragung von Moses Mendelssohn sagt letztlich nichts anderes. Wenn da zu lesen ist "Der Hüter Israels schläft, er schlummert nicht!" dann muss man das Wörtchen "nicht" ganz einfach auf beide Satzhälften beziehen. Will sagen: Gott schläft nicht und schlummert auch nicht.
Die Sprache des 18. und 19. Jahrhunderts ist halt schon nicht mehr unsere Sprache und Texte von damals kann man ganz schnell falsch verstehen.
Dieses Missverstehen damals in Mannheim, ist für mich aber schon fast so etwas wie ein Bild geworden. Manchmal reicht ein winziges Komma aus, um alles in einem anderen - und oft in einem ganz falschen - Licht zu sehen. Da sieht man plötzlich ein Komma im Leben, irgend einen Haken oder vermeintlichen Strich durch meine Rechnung und schon hat man das Gefühl, dass Gott schläft, gar nicht da ist und ihm vor allem nichts mehr an mir liegt.
Da geht es einem dann wie den Jüngern Jesu, die nur noch sehen, dass er da liegt, nichts tut und scheinbar schläft. Und schon ist für sie völlig klar: Den kümmert überhaupt nicht, was uns widerfährt.
"Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?"
Natürlich kümmert es Jesus und natürlich kümmert er sich darum, dass dies nicht geschieht, und natürlich hat er sich schon lange darum gekümmert, noch bevor Menschen ihn daran erinnern. Auch wenn es manchmal so aussehen mag: Gott schläft nicht, er ist hellwach. Und er ist vor allem: wach für uns, für uns am Werk.
Wenn wir das wieder einmal nicht merken, wenn uns wieder einmal das Gefühl überkommt, er sei nicht da, würde sich nicht um uns kümmern, gerade so, als würde er schlafen, dann kann das durchaus daran liegen, dass wir wieder einmal ein Komma sehen, das gar nicht da ist.
Bei einem Chorsatz in altertümlicher Sprache lohnt es sich da, manchmal zwei Mal hinzuschauen.
Möglicherweise offenbart sich schon beim zweiten Blick, dass mein erster Eindruck, vielleicht doch eine Täuschung war. Mag sein, dass es bei Gott manchmal etwas komplizierter ist, mag sein, dass sich solche Eindrücke bei ihm nicht ganz so schnell korrigieren lassen.
Aber da lohnt es sich dann, sogar drei Mal hinzuschauen - und manchmal sogar noch öfters.
Amen.
(gehalten am 20./21. Juni 2009 in der Paulus- und Peterskirche, Bruchsal)