Predigten aus der Praxis
Ansprachen für Sonn- und Festtage
30. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr B (Mk 10,46-52)
In jener Zeit, als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg. (Mk 10,46-52)
Liebe Schwestern und Brüder,
vor einiger Zeit habe ich mir einen kurzen Text abgeschrieben, ein paar Zeilen einer 17jährigen, der 17jährigen Babette. Ich fand sie veröffentlicht in einer kleiner Sammlung von Gedanken die sich Jugendliche über ihren Glauben gemacht haben. Und Babettes Ausführungen waren überschrieben mit den Worten: Als ich klein war... Ich möchte Ihnen diese Zeilen kurz vorlesen; Babette schreibt:
"Als ich klein war, da erzählte man mir von Gott und seinen Wundern. Wie er die Welt, die Menschen, die Tiere, die Erde, das ganze Weltall geschaffen habe und wie wir dafür den Schöpfer loben und ihm danken müssten. Als ich klein war, war ich überzeugt von Gott. Ich glaubte an ihn, seine Macht, seine Güte, seine Gerechtigkeit.
Ich wurde größer und erkannte alle Not und alles Elend um mich - da begann ich zu zweifeln. Und heute? Heute bin ich 17 und kann nicht mehr an die Märchen glauben, die sie mir von Gott erzählt haben. Wenn es Gott gibt, wenn es Gerechtigkeit gibt, warum dann die große Ungerechtigkeit auf unserer Erde? Warum leben wir dann in einem solchen Chaos? Man sagte mir: Gott liebt die Menschen... Wenn Gott die Menschen liebt, warum hilft er uns dann nicht? Warum zeigt er uns nicht den rechten Weg? Ist es nicht besser, wenn wir nicht mehr auf Gottes Hilfe warten, sondern selber versuchen, uns zu helfen? Ich bin heute soweit, dass ich nicht mehr auf Gottes Hilfe warte. Vielleicht ist es mir später wieder einmal möglich, seine Güte anzuerkennen. Heute lehne ich ihn ab. Meine Zweifel sind zu groß."
Soweit Babette. Sie glaubt, unheimlich weit weg zu sein, unheimlich weit weg von diesem Gott, der ihr scheinbar so fremd geworden ist.
Ich denke, Sie weiß nur noch nicht, dass sie ihm heute sogar viel näher ist, viel näher als zu der Zeit, in der sie klein war, in der sie glaubte, ihm eigentlich ganz nahe zu sein. Ich würde Babette gerne sagen, dass es überhaupt nicht tragisch ist, nicht mehr an Märchen glauben zu wollen, die Berichte von einem Jesus, der wie ein strahlender Held aus der Märchenwelt geschildert wird, zur Seite zu legen. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich diese Geschichten sogar auf die Seite legen muss. dass ich sie weglegen muss, wenn ich diesem Gott tatsächlich nahe kommen möchte.
Sie brauchen sich dazu nur die Menschen anzuschauen, die im heutigen Evangelium geschildert werden, die Menschen, die in Jericho zusammengekommen waren. Mich erinnern die an die Babette, und zwar an die Babette zu der Zeit, als sie klein war.
Diese Leute in Jericho hatten von diesem Wunderrabbi gehört, und sie staunten nicht schlecht über ihn, so wie Kinder über einen Märchenprinzen. Sie kamen von überall her und sie jubelten ihm zu. Habt Sie bemerkt, dass kein einziger von ihnen diesem Jesus tatsächlich nahegekommen ist?
An all den Menschen, die "Ah" und "Oh" sagend in Ehrfurcht am Straßenrand erstarrten, an all den Menschen zog Jesus vorüber. Begegnet ist er - so zumindest schildert es Markus - begegnet ist er einzig und allein diesem Bartimäus, einem blinden Bettler, der jetzt wie zufällig am Straßenrand saß. Und dieser Bartimäus, der erinnert mich jetzt auch an die Babette und zwar an die Babette im Alter von 17 Jahren.
Er hatte natürlich von den Wundertaten gehört, er war auch fasziniert von dem Gedanken, dass das jetzt der Messias sein könnte, aber er war zugleich ein Mann, der nicht vergessen konnte, dass es trotz all der Berichte über diesen Jesus, Not und Elend gab. Er konnte trotz all des Spektakels damals in Jericho das Leid nicht vergessen, weil er selbst in diesem Leid viel zu tief drin steckte, weil er es am eigenen Leib verspüren musste. Er konnte nicht einfach Hosianna und Halleluja rufen. Auf dem Hintergrund seines eigenen Lebens konnte er nur nach Erbarmen rufen.
Wenn das ein Wunderrabbi sein soll, ja, wenn das gar der Messias ist, dann muss der doch schließlich auch etwas mit mir zu tun haben, dann kann der das, was in meinem Leben geschieht, doch nicht einfach zulassen, dann muss der doch was tun können, mein Leid doch aus der Welt hinausschaffen können. "Jesus, Sohn Davids, du kannst doch nicht einfach vorübergehen, du kannst mich doch nicht einfach hier sitzen lassen! Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!"
Und mit all seiner Not und all seiner Hilflosigkeit schlug sich dieser Bartimäus nun durch; gegen alle Widerstände, ganz weit vor, bis direkt vor die Füße dieses Jesus von Nazaret; und er machte dort, denke ich, er erlebte dort zunächst wohl die Enttäuschung seines Lebens.
Genauso wie die Babette.
Dieser Jesus, auf den er jetzt alle seine Hoffnung gesetzt hatte, dieser Jesus machte nämlich absolut keine Anstalten, auch nur irgendetwas zu tun. Ganz im Gegenteil, er stand nur da und stellte ihm eine vollkommen unvorstellbare Frage: "Was willst du denn? Was soll ich Dir denn tun!"
Also dümmer kann man fast nicht fragen. Alle Welt wusste doch, was dieser Bettler wollte. Er wollte genauso sein, wie all die anderen, er wollte glücklich sein können, auch seinen Teil von den schönen Seiten des Lebens mitbekommen, in Frieden und ohne Sorgen leben können, gesund und zufrieden sein. Wie konnte Jesus da nur so eine saublöde Frage stellen?
Nun, Vielleicht musste er sie stellen. Vielleicht musste er sie stellen, um eine Antwort zu geben. Eine Antwort auch auf die Zweifel der Babette. Mit dieser einfachen Frage macht Jesus für mich nämlich dem Bartimäus eine Fülle von Dingen gleichzeitig klar. Es ist so, wie wenn er ihm sagen würde: "Erwarte bitte nicht, dass ich jetzt anfange irgendetwas zu tun. Du glaubst doch nicht etwa, dass es gut für dich wäre, wenn ich jetzt den Himmel und die Sterne durcheinanderwirbeln würde, wenn ich mit einem Schlag all deine Probleme aus dem Leben ausradieren würde. Wäre es wirklich gut für dich, wenn ich dir dein Leben leben würde? Das ist dein Leben, du musst es leben und du kannst es auch! Du darfst dich nur nicht hinsetzen und auf mich warten! Schau ruhig auf dich, was willst du?"
Ich kann mir gut vorstellen, wie hilflos und verdattert der Bartimäus jetzt dasteht, wie er ganz kleinlaut sagt: "Aber Herr, ich muss doch wieder sehen können!" Und es ist mir, wie wenn Jesus jetzt sagen würde: "Bartimäus, es ist doch schon alles getan. Schau, du hast dich gefragt, was du tun musst, was du selber tun kannst. Und du hast daraufhin angefangen loszuschreien, hast dich gegen alle Widerstände bis hierher durchgeschlagen. Alles wichtige ist bereits getan. Du hast es getan! Da, wo du dein Leben lebst, wo du alles tust, was zu Tun in deiner Macht steht, da bin ich zusammen mit dir am Werk. Und da leg ich sozusagen noch drauf, was du zu leisten nicht imstande bist. Geh, dein Handeln aus dem Glauben heraus hat dir schon lange geholfen. Du selbst hast gemacht, dass ich dir schon lange geholfen habe." Und in diesem Augenblick merkte Bartimäus, begriff Bartimäus erst dass schon alles geschehen war, dass er bereits ja wieder sehen konnte.
Ich würde Ihr ihn gerne vor Augen halten, ich würde der Babette diesen Bartimäus gern vor Augen führen, ich würde ihr liebend gern sagen: Ja, Babette, du hast vollkommen recht! Du hast recht, wenn du sagst, wir sollten aufhören, aufhören darauf zu warten, dass Gott uns die Arbeit abnimmt. Warte nicht darauf, dass er eingreift, warte nicht darauf, dass er den Himmel und die Erde durcheinanderwirbelt, und warte vor allem nicht darauf, dass Gott damit beginnt für dich dein Leben zu leben. Frage dich vielmehr, was du selber tun musst. Und tue es dann auch. Aber vertraue darauf, dass du ihm in diesem Tun unendlich nahe bist, dass du ihm nahe bist, vertraue da drauf, nicht, weil er dir dein Tun abnehmen würde, sondern weil er dir bei deinem Tun, weil er dir genau dabei hilft.
Amen.
(gehalten am 27. Oktober 1991 in der Schlosskirche Mannheim)