Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die Kanonisierung als Vorgang ⋅1⋅
Wenden wir uns nun, nachdem wir die einzelnen Bücher des Neuen Testamentes genauer angeschaut haben, der Frage zu, wie diese Schriften zum Kanon des Neuen Testamentes geworden sind. Warum sind ausgerechnet diese 27 Bücher zum Neuen Testament zusammengestellt worden?
Wenn wir die Geschichte der Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften betrachten, dann schauen wir uns im Grunde die Geschichte einer andere urkirchliche und nachapostolische Schriften ausschließenden Sammlung an. Der 1. Clemensbrief oder die 7 Briefe des Ignatius von Antiochien, die von ihrer Entstehungszeit her durchaus mit mancher neutestamentlicher Schrift mithalten können, sind nicht in den Kanon aufgenommen worden. Wie aber kommt es nun zur Sammlung gerade dieser 27 Schriften? Wieso werden ausgerechnet sie als heilige Schriften gewertet?
Betrachten wir nun also den Vorgang der Kanonisierung ein wenig näher. Dabei gilt es von vorneherein zu berücksichtigen, dass es sich dabei um einen doppelten Vorgang handelt. Es ist prinzipiell ein Vorgang der Sammlung und gleichzeitig ein Vorgang der Qualifikation. Man sammelte nämlich die Schriften, die man als heilige, inspirierte Schriften wertete.
1. Der Kanon
Der griechische Begriff, von dem sich der Name für diesen Vorgang letztlich ableitet, lautet nun κανών ["kanón"], was ursprünglich den "Rohrstab" oder das "Schilfrohr" bezeichnete. Dann bekam das Wort im übertragenen Sinne die Bedeutung "Stab" und "Maßstab". Und in der weiteren Entwicklung wuchsen dem Begriff die Bedeutungen "Richtschnur", "Regel" oder dann auch "Liste" zu.
Seit der Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. haben kirchliche Autoren bestimmte Bücher, die von der Kirche anerkannt waren, als "canonica" bzw. κανονιζόμενα ["kanonizómena"], also als "kanonisch" bezeichnet. Und dies bedeutete, dass diese Bücher der kirchlichen Regel angepasst waren. Es gab daneben auch Schriften, die man ἀναφινωσκόμενα ["anaginoskómena"] nannte. Darunter verstand man sogenannte "Vorlesebücher", die die Kirche im Taufunterricht verwenden konnte oder auch nicht. Die dritte Gruppe waren die sogenannten ἀπόκρυφα ["apókypha"], die "verborgenen" Bücher, die als nicht-kanonische, apokryphe Bücher verworfen worden waren.
Von einem ausgesprochenen Kanon der biblischen Bücher spricht man seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. Man tut dies einerseits deswegen, weil die darin enthaltenen Bücher - wie die Kirche sagt -, den Maßstab, die Richtschnur und die Regel des Glaubens und christlichen Lebens enthalten, und andererseits weil aus diesen Büchern die Sonntagslesung - natürlich mit Unterschieden in den einzelnen Kirchengebieten - nach einer festen Richtschnur ganz ähnlich wie durch unsere Leseordnung geregelt war.
Entsprechend der Wortbedeutung des Begriffs Kanon kann man im Blick auf die neutestamentlichen Schriften auch an "ein von der Kirche aufgestelltes Verzeichnis" der heiligen Bücher denken.
In der lateinischen Kirche spiegelt sich dieser Sprachgebrauch auch noch in der Übersetzung der griechischen Begriffe κανών ["kanón"] und κανονικός ["kanonikós"] wieder. Sie lauten im Lateinischen nämlich 'regula' und 'regularis', was ganz im Sinne der eben genannten Auffassung, an eine kirchliche Regel denken lässt.
Damit bezeichnet das Wort "Kanon" sowohl die Sammlung jener Texte als auch die Wertung der so gesammelten Bücher als heilige Schriften.
Die Qualifikation dieser 27 Bücher als Hl. Schrift ist nun - wie bereits gesagt - ein Vorgang, ein Prozess. Dass man ausgerechnet diese 27 Schriften als kanonisch betrachtete ist ein geschichtlicher Prozess, der über 250 Jahre benötigte. Und dabei ist dieser Prozess nicht einmal einförmig verlaufen. Der Vorgang der Kanonbildung ist bildlich gesprochen vielmehr ein Vorgang des "Probierens", d. h. die Bücher wurden inhaltlich geprüft, verschiedene Kriterien erarbeitet, um das ein oder andere Buch richtiggehend gerungen und dieser wie jener Lösungsvorschlag angeboten. Im wesentlichen war dieser Prozess erst im 5. Jahrhundert n. Chr. abgeschlossen. Und endgültig und formell wurde er für die römisch-katholische Kirche gar erst auf dem Konzil von Trient zu Ende gebracht.
2. Qualität und Inspiration
Die dogmatische Betrachtung der neutestamentlichen Schriften täuscht ein wenig über die Kompliziertheit dieses geschichtlichen Prozesses hinweg. Trotzdem trägt auch sie diesem Umstand Rechnung. In der Dogmatik ist die Qualität der 27 neutestamentlichen Bücher durch die Inspiration gegeben. Und das heißt, dass diese Schriften ihre Qualität selbst in sich tragen. Sie wird ihnen demnach nicht von außen erst zugesprochen.
"Die Kirche hält jene Bücher für heilig und kanonisch deshalb, weil sie, unter der Inspiration des Hl. Geistes geschrieben, Gott zum Autor haben und als solche inspirierte Bücher der Kirche selbst überliefert sind." ⋅2⋅
Das heißt aber, dass die Qualifikation der entsprechenden Bücher nicht auf einer bloßen Entscheidung der Kirche beruht. Es ist demnach nicht so, als könne die Kirche über diese Bücher entscheiden, wie wenn sie selbst über der Schrift stünde (vgl. die einschlägigen Aussagen des II. Vaticanums). Die Kirche hat nicht die Möglichkeit der Entscheidung, sie hat lediglich die Möglichkeit der Unterscheidung.
So ist die Aufgabe der Kirche im Blick auf die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften lediglich eine unterscheidende. Sie unterscheidet das zum Kanon Gehörige vom nicht zu ihm Gehörigen. Dabei bindet sich die Kirche dann selbst in einer Entscheidung, die in sich selbst Unterscheidung ist, an die normierende Norm der Schrift. Die Schrift wird zur "norma normans".
Das bedeutet im letzten, dass die Schrift niemals an die Kirche als oberste Instanz gebunden werden kann. Es ist genau umgekehrt. Obschon die Kirche letztlich die Aufgabe der Unterscheidung hatte, ist sie nun an die Schrift als oberste Instanz gebunden. Die Kirche bindet sich demnach in der Rückbesinnung auf ihren Ursprung und das verpflichtende Erbe der apostolischen Zeit an den Maßstab des Anfangs. Und dieser Maßstab ist ihr von Jesus und den Aposteln gesetzt. Deshalb weist das Neue Testament auch die grundlegende Zweiteilung des Kanons auf: Auf der einen Seite Jesus und die Evangelien auf der anderen Seite die Schriften der Apostel.
Die Qualität Heilige Schrift besagt dann nichts anderes, als dass in den Schriften des Neuen Testamentes von Anfang an die lebendige, normierende Autorität der Kirche, nämlich Jesus Christus und der Heilige Geist, spricht.
Dabei ist klar, dass die Qualität Heilige Schrift nicht historisch feststellbar ist. Sie lässt sich auch nicht mit dem Seziermesser der Wissenschaft herausschälen. Sie ist im Letzten an den Glauben gebunden.
Anmerkungen