Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die synoptische Frage und die Zwei-Quellen-Hypothese ⋅1⋅
- 1. Die synoptische Frage
- a. Die alte Kirche und das Mittelalter
- b. Klassische Hypothesen zur Klärung der synoptischen Frage
- c. Der Erklärungsversuch des Johann Jakob Griesbach
- d. Die Zwei-Quellen-Hypothese
- 2. Die Logienquelle (Q)
- a. Erschließung der Logienquelle
- (1) Ein Beispiel das die Existenz einer Logienquelle nahe legt
- (2) Die Übereinstimmungen
- (3) Gemeinsame Struktur
- (4) Weitere Hinweise auf die Existenz der Logienquelle
- b. Eigenart und Verwendung der Logienquelle
- c. Entstehungszeit
- 3. Sondergut und Logienquelle
Eine zweite, alte Quelle, die in den Evangelien Verwendung gefunden hat, wird ebenfalls heute von fast allen Forschern postuliert. Sie hat zwar nicht mehr auf das Markus-Evangelium, wohl aber auf Matthäus und Lukas eingewirkt, ist also möglicherweise nicht ganz so alt, wie die Sammlungen, die wir bisher betrachtet haben. Wegen ihrer Bedeutung, möchte ich hier etwas näher auf diese Quelle eingehen. Dazu müssen wir aber weiter ausholen.
1. Die synoptische Frage
Und beginnen möchte ich mit der Feststellung, dass beim Vergleich der vier Evangelien eines auffallen muss: Während das vierte, das Johannes-Evangelium völlig aus dem Rahmen fällt, eine ganz eigene Art der Evangelien-Darstellung ist, gleichen sich die ersten drei Evangelien auf bemerkenswerte Art und Weise. Dazu reicht schon der Blick auf die Gliederung etwa. Während das Johannes-Evangelium ganz eigene Wege geht, bieten die ersten drei Evangelien ihren Stoff in der nahezu gleiche Reihenfolge dar:
- Es beginnt mit Johannes dem Täufer,
- geht über die Taufe Jesu
- und die Versuchungen in der Wüste
- zum Auftreten Jesu in der Öffentlichkeit. Dieses wird fast ausschließlich in Galiläa verortet.
- Dann folgt die Schilderung des Todespascha,
- die Kreuzigung
- und am Ende die Auferstehung.
Man kann diese drei Evangelien daher geradezu nebeneinander legen und parallel zueinander lesen. Das hat man denn auch gemacht, man hat die ersten drei Evangelien richtiggehend in Spalten nebeneinander geschrieben, so dass man gleichsam in einer Zusammenschau - einer Synopse - diese drei Texte fortlaufend miteinander vergleichen kann.
Von daher nennt man diese drei Evangelien auch die synoptischen Evangelien und ihre Verfasser die drei Synoptiker.
a. Die alte Kirche und das Mittelalter
In der alten Kirche und im Mittelalter hat man den Tatbestand als solchen wohl bereits gesehen. Die "Synopse" des Ammonios und die Kanontafeln des Eusebios sowie Augustinus' Schrift "De consensu evangelistarum" beweisen dies. Aber man glaubte den Tatbestand noch damit erklären zu können, dass die Evangelien eben in der Reihenfolge entstanden seien, in der sie heute im Neuen Testament stehen. Kein Evangelist hätte geschrieben, ohne die Produkte seiner Vorgänger zu kennen. Von daher sei es verständlich, dass die nachfolgenden Evangelisten eben die Texte ihrer Vorgänger mitverwendet hätten. Die zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen der Texte konnte man sich auf diese Art und Weise natürlich erklären.
So betrachtete Augustinus das Markus-Evangelium ganz einfach als eine Kurzfassung des Matthäus-Evangeliums. Er glaubte, dass Markus eben so etwas wie eine Kurzfassung des ausführlichen Matthäus-Evangeliums habe schaffen wollen, so quasi für den ersten Einblick in die Botschaft Jesu. Diesen Schluss zog Augustinus schon aus der unterschiedlichen Länge der drei Evangelien. Es muss ja auffallen, dass das Matthäus- und das Lukas-Evangelium jeweils fast doppelt so lang sind wie das Markus-Evangelium:
Das Markus-Evangelium war für Augustinus demnach nichts anderes als ein Auszug aus dem Matthäus-Text.
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann man, auf eine neue Art und Weise an das Problem der drei synoptischen Evangelien heranzugehen und sich einer wirklichen Lösung zu nähern.
b. Klassische Hypothesen zur Klärung der synoptischen Frage
Der erste nennenswerte Vorstoß stammt von Gotthold Ephraim Lessing. ⋅2⋅ Lessing ging davon aus, dass es so etwas wie ein Ur-Evangelium gegeben habe. Er nannte es "Evangelium der Nazarener". Von diesem aramäischen Ur-Evangelium seien dann verschiedene Übersetzungen und Auszüge angefertigt worden. Damit erklärte Lessing die inhaltlichen Übereinstimmungen, aber auch die Unterschiede der ersten drei Evangelien.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ⋅3⋅ begründete die Gemeinsamkeiten der drei synoptischen Evangelien mit der gemeinsamen Tradition einzelner Taten und Worte Jesu. Einzelne Begebenheiten aus dem Leben Jesu seien in kleinen Sammlungen weitergegeben worden. Diese Sammlungen wären von den Evangelisten dann auf unterschiedliche Art und Weise zu Evangelien ausgebaut worden. Dadurch erklärt Schleiermacher die Gemeinsamkeiten der ersten drei Evangelien. Die Unterschiede begründet er mit verschiedenen Redaktionen, die diese Teilsammlungen erfahren hätten.
Vom griechischen Wort διήγησις ["diægæsis"], "Erzählung", her, nennt man diese Theorie Diegesen- oder Fragmentenhypothese.
Auch die von Johann Gottfried Herder ⋅4⋅ im Jahre 1797 angebahnte und von J. C. L. Gieseler 1818 konsequent ausgebaute Traditionshypothese, die eine zeitlang besonders auf katholischer Seite zahlreiche Verteidiger gefunden hat, war ein Lösungsversuch der synoptischen Frage.
Nach ihr seien die drei Evangelien zwar unabhängig voneinander entstanden, aber die drei Evangelisten hätten aus der mündlichen Tradition schöpfen können. Obschon die Vertreter dieser Theorie davon ausgingen, dass diese mündliche Tradition so exakt gewesen sei, dass sie bei der Abfassung der Evangelien zu teilweise wortwörtlichen Entsprechungen geführt habe, kann man mit der Tradionshypothese doch wohl eher die Unterschiede in den Evangelien erklären. Die Übereinstimmungen der drei Evangelien vermag man mit dieser Hypothese nur zu einem geringen Teil, begreiflich zu machen.
c. Der Erklärungsversuch des Johann Jakob Griesbach
Im Zusammenhang mit diesen Versuchen zur Klärung der synoptischen Frage entstand Ende des 18. Jahrhunderts auch die erste gedruckte Synopse. Sie geht auf den Hallenser Gelehrten Johann Jakob Griesbach ⋅5⋅ zurück. Erschienen ist sie in Halle im Jahre 1776.
Griesbach stellte sich neu der Frage, welches Evangelium denn nun das älteste sei. Ausgehend von dieser Frage wollte er dann die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den drei ersten Evangelien klären. Durch die Zusammenschau der Evangelien versuchte er nun dieses synoptische Problem zu lösen.
Die Schlüsse, die Griesbach nun aus dieser Zusammenschau zog, waren folgende:
Er sagte sich, dass das Lukas-Evangelium das älteste sein müsse. Es allein überliefert schließlich die Kindheitsgeschichte und müsse demnach auch noch am nächsten an den Ereignissen dran gewesen sein.
Das zweite Evangelium war für Griesbach das des Matthäus.
Er vermutete nun, dass Markus die beiden ihm vorliegenden, fast doppelt so langen Evangelien gekürzt habe und dadurch eine Kompilation aus dem Matthäus- und dem Lukas-Evangelium schaffen wollte.
Die Griesbach'sche These birgt, bei genauem Hinsehen, eine Fülle von Schwachstellen. Schon die Annahme, dass das Vorhandensein einer Kindheitsgeschichte für hohes Alter des Textes sprechen würde, ist ein sehr voreiliger Schluss. Dann müsste ja das apokryphe sogenannte Kindheitsevangelium das allerälteste sein.
Auch wäre es, wenn Griesbachs These stimmen würde, völlig unbegreiflich, warum Markus dann die sprachliche Form seiner Quellen verschlechtert hätte. Markus müsste dann auch unvorstellbarerweise den reichen Stoff an Reden Jesu, den seine Vorlagen ihm dargeboten hätten, fast ganz ignoriert haben.
Die Griesbach'sche These wird dementsprechend nur noch von ganz wenigen Exegeten vertreten. Dies sind die sogenannten Neu-Griesbachianer, deren Hauptvertreter der Amerikaner Farmer mit seinen Schülern und der Benediktiner Orchard sind.
d. Die Zwei-Quellen-Hypothese
Durchgesetzt hat sich in der Exegese eine ganz andere Theorie. Und sie scheint die Probleme um die drei synoptischen Evangelien doch recht einleuchtend zu erklären.
Verbunden ist diese Hypothese mit dem Namen Karl Lachmann, einem Germanisten und klassischen Philologen, der am 4. März 1793 in Braunschweig geboren wurde. Gestorben ist er am 13. März 1851 in Berlin. Mitte des 19. Jahrhunderts löste er das synoptische Problem mit seiner entscheidenden Schrift von 1835 weitgehend.
Auf seinen Beobachtungen bauten, dann im Jahre 1838 Christian Hermann Weiße ⋅6⋅ und Christian Gottlob Wilke ⋅7⋅ auf. Sie bewiesen unabhängig voneinaner, dass Matthäus und Lukas nur über Markus, aber nicht unmittelbar miteinander verwandt sind.
Das bedeutete aber, dass das Markus-Evangelium das älteste sein müsse. Auf diesem Text haben dann Lukas und Matthäus aufgebaut. Damit ließ sich erklären, dass sowohl Matthäus als auch Lukas in weiten Passagen fast wörtlich mit dem Markus-Evangelium übereinstimmen.
Nun bieten die beiden großen Evangelien aber über das Markus-Evangelium hinausgehend eine Fülle von Übereinstimmungen. Viele Berichte, die im Markus-Evangelium nicht vorkommen, werden sowohl im Lukas- als auch im Matthäus-Evangelium in auffallender Übereinstimmung dargeboten. Wenn nun das Lukas-Evangelium unabhängig vom Matthäus-Evangelium entstanden sein soll, dann benötigt dieses Phänomen ja einer Erklärung.
Hier gingen Lachmann, Weiße und Wilke davon aus, dass Matthäus und Lukas zusätzlich zum Markus-Evangelium eine weitere Quelle benutzt haben müssen. Diese Quelle muss beiden Evangelisten also schriftlich vorgelegen haben.
Da die Teile, die in Matthäus und Lukas über Markus hinaus enthalten sind, vor allem Reden Jesu betreffen, geht man davon aus, dass in dieser zusätzlichen Quelle vor allem der bei Markus fast völlig fehlende Redestoff enthalten war. Man nennt diese postulierte Quelle der Evangelisten Lukas und Matthäus daher auch die "Redequelle" oder auch "Logienquelle". Abgekürzt wird diese Logienquelle in der Literatur in der Regel mit dem Buchstaben "Q".
Damit war die sogenannte "Zwei-Quellen-Hypothese" begründet. Sie hat sich seither, zunächst in der protestantischen Forschung, im Laufe des 19. Jahrhunderts immer allgemeiner durchgesetzt, wenn auch nie ganz unangefochten. Sie gilt als die Hypothese, die den synoptischen Tatbestand am treffendsten und einfachsten zu erklären in der Lage ist.
Das Hauptverdienst an ihrem Erfolg hatten dann in der Folge Heinrich Julius Holtzmann ⋅8⋅ und Bernhard Weiß. ⋅9⋅
Manche Exegeten erweiterten dann die von Karl Lachmann ausgehende These und vermuten, dass die sogenannte "Logienquelle" ursprünglich in aramäischer Sprache vorgelegen hätte und später ins Griechische übersetzt wurde. Den Evangelisten Matthäus und Lukas hätten dann verschiedene griechische Übersetzungen von Q vorgelegen. Damit erklären diese Exegeten die kleinen Abweichungen, die es zwischen dem Matthäus- und dem Lukas-Evangelium trotz aller Übereinstimmungen dennoch gibt.
So kann man die Zwei-Quellen-Hypothese abschließend mit folgender Formel zusammenfassen:
2. Die Logienquelle (Q)
Bevor wir nun zur Behandlung der einzelnen Evangelien übergehen, möchte ich noch ein wenig bei dieser postulierten Logienquelle bleiben. Was lässt sich über diese "Logien-" oder "Redequelle" nun sagen?
a. Erschließung der Logienquelle
Die Logienquelle selber ist uns ja nicht erhalten. Sie kann nur aus den Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas erschlossen werden.
(1) Ein Beispiel das die Existenz einer Logienquelle nahe legt
Versuchen wir diesen Vorgang der Erschließung zum besseren Verständnis nun selbst einmal nachzuvollziehen.
Wir greifen dazu ganz einfach einen Abschnitt aus den drei Evangelien heraus. Etwa Mk 4,30-32 und die dazugehörigen Parallelstellen aus Matthäus und Lukas.
wenn es
gesät ist auf die Erde;
das ein Mensch nahm und
säte auf seinem Feld.
das ein Mensch nahm
und warf in seinen Garten.
steigt es hoch und wird größer als alle Sträucher
ist es größer als die Sträucher
Wir können die drei Versionen des Gleichnisses hier gut vergleichen. Gemäß der Zwei-Quellen-Hypothese wären Matthäus und Lukas hier abhängig von Markus. Ihre Versionen stimmen stark mit der markinischen Version überein, ohne dass alle Unterschiede aufgehoben wären.
Die Texte fahren nun aber folgendermaßen fort:
Hier fehlt nun eine Markus-Parallele. Dieses Gleichnis kennt das Markus-Evangelium offenbar nicht. Dementsprechend geht die Zwei-Quellen-Hypothese davon aus, dass Matthäus und Lukas hier aus der postulierten gemeinsamen Quelle Q schöpfen. Gerade die wortwörtlichen Übereinstimmungen, die in dieser konkordanten, also möglichst wortgetreuen Übersetzung sehr schön deutlich werden, stechen ja ins Auge.
Solche Beispiele gibt es in den ersten drei Evangelien in Hülle und Fülle.
(2) Die Übereinstimmungen
Die Übereinstimmungen im Wortlaut innerhalb des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums sind im Blick auf die Erzählungen und Passagen, die nur in diesen beiden Evangelien vorkommen, teilweise sehr weitgehend. Die Annahme einer gemeinsamen Textvorlage drängt sich demnach geradezu auf.
Teilweise sind diese Übereinstimmungen aber eher recht gering zu nennen. So etwa zwischen Mt 10,26-33 und Lk 12,2-9 oder auch zwischen Mt 25,14-30 und Lk 19,11-27. Dies ließ immer wieder Einwände laut werden. Oder führte auch zu Modifkationen der Zwei-Quellen-Hypothese, wie ich anfangs ja bereits ausgeführt habe.
Immerhin beträgt der gemeinsame Wortschatz in allen in Betracht kommenden Abschnitten über 50 %. Dies wäre bei bloß mündlicher Überlieferung äußerst schwer zu erklären.
(3) Gemeinsame Struktur
Ein wichtiger Hinweis auf eine zugrundeliegende Quelle ist aber nicht nur die Übereinstimmung in Wortlaut und Vokabular. Wesentlich ist auch, dass sich so etwas wie eine gemeinsame Struktur jener Perikopen ausmachen lässt, die Matthäus und Lukas über das Markus-Evangelium hinaus darbieten. Und das trotz der Tatsache, dass Matthäus und Lukas das über Markus überschießende Redengut in völlig verschiedener Weise in den ihnen vorliegenden Markus-Rahmen eingefügt haben.
Matthäus ordnet seinen zusätzlichen Stoff beispielsweise in großen Reden an. Diese finden sich in den Kapiteln 5-7; 10; 11; 18,10ff; 23; 24,37ff und 25. Wenn man diese Abschnitte ausscheidet, dann bleibt im Großen und Ganzen der Stoff des Markus übrig.
Lukas hingegen bietet das über Markus hinausgehende Gut zum größten Teil in Lk 6,20-8,3 und Lk 9,51-18,14, der sogenannten kleinen und großen Einschaltung, dar. Er ordnet seinen zusätzlichen Stoff also sehr konzentriert an.
Man sollte nun erwarten, dass angesichts dieser so verschiedenen Art der Anordnung des gemeinsamen Stoffes bei Matthäus und Lukas sich keine gemeinsame Reihenfolge dieser Texte bei diesen beiden Evangelisten beobachten lässt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Zählt man die Abschnitte des Lukas, die bei Matthäus eine mehr oder weniger übereinstimmende Parallele haben, in ihrer Lukas-Reihenfolge durch und stellt die Matthäus-Parallelen mit den entsprechenden Ordnungs-Zahlen der Matthäus-Reihenfolge daneben, so ergibt sich - wenn man Einzelsprüche mal unberücksichtigt lässt - das folgende Bild: ⋅10⋅
Die farbig unterlegten Texte haben nun bei Matthäus und Lukas trotz der verschiedenen Kompositionsmethode die gleiche Reihenfolge.
Taylor hat gezeigt, dass das auch für zahlreiche kleinere Einheiten gilt. Selbst also wenn man nicht die Reihenfolge der Abschnitte bei Matthäus mit der des Lukas vergleicht, sondern einzelne Reden des Matthäus der Lukas-Reihenfolge gegenüberstellt.
Solche Übereinstimmungen können aber kaum Zufall sein. Sie weisen im Letzten auf eine gemeinsame, schriftliche Quelle hin.
Nach Rudolf Pesch dürfte diese Spruchsammlung, die ja mit dem Auftreten Johannes des Täufers beginnt, mit einem Absatz begonnen haben, der etwa Lk 3,1-6 entsprechen würde.
(4) Weitere Hinweise auf die Existenz der Logienquelle
Einen weiteren, und vielleicht sogar den entscheidenden Hinweis für eine gemeinsame, schriftliche Quelle des Matthäus und des Lukas liefern uns aber die Dubletten bzw. Doppelüberlieferungen.
Doppelüberlieferungen, das sind Texte, die sowohl bei Lukas, als auch bei Matthäus begegnen, aber bei beiden in einer voneinander abweichenden Form. Wenn solch ein Phänomen begegnet, muss man schließlich davon ausgehen, dass die jeweiligen Evangelisten in diesem Fall auf unterschiedliche Traditionen zurückgreifen. Die gleiche Begebenheit wurde auf verschiedenen Wegen tradiert. Sie hat sich dabei verändert und lag dem jeweiligen Evangelisten dementsprechend in einer eigenen Form vor.
Dubletten hingegen sind Texte, die ein und derselbe Evangelist zweimal in seinem Evangelien-Text anführt.
Lukas berichtet so merkwürdigerweise zweimal über die Aussendung der Jünger und zwar einmal in Kapitel 9, das andere Mal in Kapitel 10. Wichtig ist hierbei, dass die erste Darstellung in der Hauptsache mit Mk 6,7-13 parallel läuft, die zweite aber ist eine recht genaue Parallele zu Mt 10,1-16.
Dieser Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium berührt sich wiederum abwechselnd mit Mk 6,7-13 und Lk 10,1-12.
Ähnliche Dubletten bei Matthäus, von denen die eine mit Markus zusammengeht, die andere mit Redengut, sind z. B. Mt 18,8-9 und Mt 5,29-30 und dann das Paar Mt 19,9 und Mt 5,32.
Weiter findet sich eine Reihe von Worten Jesu bei Matthäus und Lukas je zweimal, einmal in einem Zusammenhang, den auch das Markus-Evangelium bietet, ein zweites Mal in Redestücken, die nur Matthäus und Lukas haben.
Wichtigste Beispiele hierfür sind:
Dann fällt auf, dass Mk 3,23-30 bei Lukas fehlt. Dafür aber wird von Lukas in Lk 11,17-23 eine abweichende Fassung der Verteidigung Jesu gegen den Vorwurf des Dämonenbündnisses geliefert. Mt 12,25-31 erinnert nun aber wieder abwechselnd an Mk 3 und Lk 11. ⋅11⋅
Solche Dubletten und Doppelüberlieferungen sind bei Matthäus und Lukas recht häufig anzutreffen. Im Markus-Evangelium gibt es hingegen nur eine einzige Dublette, nämlich Mk 9,35, der Hinweise darauf, dass jemand, der Erster sein will, der Letzte und aller Diener sein soll. Eine Aussage, die nur leicht verändert in Mk 10,43-44 ⋅12⋅ noch einmal begegnet.
Diese Phänomene sind ganz wichtige Hinweise darauf, dass Matthäus und Lukas neben dem Markus-Evangelium noch eine weitere Quelle benutzt haben müssen. Sie scheint einige Berichte enthalten zu haben, die auch im Markus-Evangelium tradiert worden waren. Und so scheint vor allem der Evangelist Lukas das ein oder andere Mal die gleiche Begebenheit sowohl aus dieser zweiten Quelle als auch aus dem Markus-Evangelium übernommen zu haben.
Dass eine solche zweite Quelle dem Matthäus und Lukas schriftlich vorgelegen hat, ist angesichts der weitgehend gemeinsamen Reihenfolge und der Dubletten bzw. deren Vermischung bei Matthäus demnach mehr als nur wahrscheinlich.
b. Eigenart und Verwendung der Logienquelle
Abschließend können wir aber festhalten, dass diese Logienquelle verhältnismäßig umfangreich gewesen sein muss. Sie bestand, wie wir gesehen haben, vorwiegend aus einer Spruchsammlung neben einigen wenigen Erzählungen.
Anscheinend enthielt diese Logienquelle keine Passions- und Auferstehungserzählung. Sie war vermutlich lediglich eine Zusammenstellung von Jesuworten. Möglicherweise diente sie von daher der Judenmission in Palästina.
c. Entstehungszeit
Diese Logienquelle überliefert uns altes palästinisches Material.
Einige Exegeten gehen deshalb davon aus, dass es eine erste Q-Fassung bereits in aramäisch gab. Sie wäre dann später übersetzt worden und hätte den Evangelisten Matthäus und Lukas in dieser Übersetzung bzw. in verschiedenen Übersetzungen als Quelle gedient.
Diese Annahme ist aber nicht zwingend notwendig. In den Jesusworten, die in der Quelle Q überliefert sind, finden sich auch im heutigen Textzusammenhang zwar zweifellose Aramäismen, also griechische Wendungen, die nur vom Aramäischen her zu verstehen sind. Und es finden sich auch Varianten im Vergleich der lukanischen und der mattäischen Überlieferung. Daraus muss man aber - so zumindest Kümmel - noch nicht schließen, dass die griechische Quelle Q erst einmal aus dem Aramäischen übersetzt wurde (so Bussby). Der Übergang vom Aramäischen zum Griechischen kann ja sehr wohl schon innerhalb der mündlichen Überlieferung stattgefunden haben. ⋅13⋅
Nach Rudolf Pesch geht die Logienquelle Q, wie auch seine vormarkinische Passionsgeschichte, auf die Tätigkeit der Jerusalemer Urgemeinde zurück. Sie wäre demnach ein Dokument aus den ersten Jahren der Christengemeinde. Aber all diese Überlegungen bleiben letztlich im Reich der Spekulation. Die Quelle Q selbst liegt uns schließlich nicht mehr vor und kann aus den heutigen Evangelientexten nur mit sehr viel Vorbehalt rekonstruiert werden.
3. Sondergut und Logienquelle
Bleibt noch zu erwähnen, dass die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas neben dieser Logienquelle natürlich auch noch andere Materialien zur Verfügung gehabt haben müssen. Von ihnen weiß man nicht, woher sie kommen. Es handelt sich um das sogenannte Sondergut (Sg).
Unter Sondergut versteht man letztlich all das, was nur bei einem der Evangelisten vorkommt und keine Parallele aufweist.
Manches Sondergut kann natürlich durchaus aus der Logienquelle stammen. Die Forschung geht nämlich davon aus, dass die Evangelisten Matthäus und Lukas manches aus der Quelle Q bewusst weggelassen haben. Wenn sie bereits ähnliches Material in ihre Schrift eingearbeitet hatten, mögen sie manchen Ausspruch etwa einfach übergangen haben.
Matthäus könnte z. B. das "Gleichnis von der verlorenen Drachme", das sich heute in Lk 15,8-10 findet, deshalb weggelassen haben, weil er schon "das Gleichnis vom verlorenen Schaf" (Mt 18,12-14) erwähnt hatte. In beiden Gleichnissen wird schließlich eine ähnliche Aussage gemacht.
Nichtsdestoweniger schöpften beide Evangelisten auch aus Traditionen, die der jeweils andere nicht kannte. Hier handelt es sich dann um Überlieferungen, die eben speziell im Umkreis der Gemeinden tradiert wurden, in denen der entsprechende Evangelist angesiedelt war.
Anmerkungen