Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die Berufung ⋅1⋅
Der Pharisäer Paulus erlebte dann eine Bekehrung, die er selbst als von Gott herbeigeführte Wende beschreibt (Gal 1,14-16; Röm 15,7; 1 Kor 9,1; 2 Kor 4). Er schildert diese Begebenheit selbst allerdings nie konkret, sondern beschreibt sie in theologischer Terminologie und lehnt sich dabei teilweise sogar an Prophetentexte an. So erinnert Gal 1,14-16 etwa ganz stark an Jer 1,5. Im Galaterbrief schreibt Paulus:
"In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein. Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate;... " (Gal 1,14-16.)
Und Jer 1,5 heißt es:
"Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt." (Jer 1,5.)
Auch Anklänge an Jes 49,1 finden sich in der oben erwähnten Darstellung des Paulus. Bei Jesaja heißt es:
"Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt." (Jes 49,1)
Torbogen zur Geraden Strasse von Damaskus.
Lizenz: Bernard Gagnon, Roman triumphal arch, Damascus,
CC BY-SA 3.0
Was aber genau geschehen ist, lässt sich aus den Äußerungen Pauli selbst nicht entnehmen. Auch scheint es schwierig zu sein, die Bekehrung des Paulus entwicklungspsychologisch zu erschließen, was in der Forschung heute manchmal versucht wird. Wir müssen wohl wahrscheinlich wirklich von einer radikalen Wende im Leben des Paulus ausgehen. Er gewann plötzlich die Überzeugung bzw. bekam von Gott die Einsicht geschenkt, dass seine Verfolgungstätigkeit falsch und die bisher von ihm verfolgten Gemeinden im Recht waren.
Die Apostelgeschichte formuliert den Prozess seiner Bekehrung, indem sie interessanterweise Jesus und die Gemeinde der Christen miteinander identifiziert:
"Saul, Saul, warum verfolgst du mich" (Apg 9),
lässt Lukas hier Jesus selbst sprechen. Interessant ist, dass Paulus in seiner Theologie dann in der Folge ähnliche Identifikationen vornimmt. Auch er identifiziert die Gemeinde in seinen Briefen ja mit dem Leib Christi. Vielleicht hat sich in der Tradition, auf die die Apostelgeschichte hier zurückgreift, tatsächlich etwas vom Erleben des Paulus erhalten.
Kernpunkt des paulinischen Gesinnungswandels war nun die Einsicht, dass das Gesetz nicht mehr der einzige und ausschließliche Heilsweg sein kann. Das Heil wird den Menschen für Paulus fortan durch den sühnenden Tod Christi am Kreuz vermittelt. Im Zentrum der Gedanken des ehemaligen Gesetzeseiferers Paulus stand nun also der Gedanke von der Freiheit vom Gesetz.
Obschon Paulus in Phil 3,2-10 ein durchaus positives Bild seiner jüdischen Vergangenheit zeichnete, vergaß er nie nachdrücklich auf die Bedeutung seiner Berufung und Bekehrung hinzuweisen. Durch dieses Erlebnis stand er nun nicht mehr unter dem Gesetz, sondern er lebte für Christus. Und dieser Jesus Christus ist der Herr einer neuen endzeitlichen Gemeinde, für die sich Paulus fortan ohne Abstriche einsetzte.
Anmerkung