Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die schriftlichen Sammlungen vor den Evangelien ⋅1⋅
- 1. Die Gleichnissammlung Mk 4,1-34
- 2. Der Wundergeschichtenzyklus Mk 3-6
- 3. Die Katechetische Sammlung in Mk 10
- 4. Die vormarkinische Passionsgeschichte
Aus dem bisher Gesagten können wir schließen, dass sich der Weg der christlichen Verkündigung mit Jesus von Nazaret beginnend bis hin dann zu den schriftlich fixierten Evangelien folgendermaßen vorstellen lässt:
- Am Anfangen stehen selbstverständlich Jesu Worte und Taten.
- Die Berichte darüber werden im Jüngerkreis schon vor Ostern, aber ganz besonders nach Ostern mündlich weitergegeben.
- Über die Augenzeugen hinaus werden dann die Berichte in den Urgemeinden weitererzählt. Durch Mission und Katechese zieht die Botschaft vom auferstandenen Kyrios Jesus Christus immer weitere Kreise.
- Gerade für diese Katechese, aber auch für die gottesdienstliche Verkündigung werden nun schriftliche Teilsammlungen angefertigt. Einzelne Worte und Taten Jesu werden zu Berichten zusammengestellt. Ganz besonders früh dürfte dies für den Passionsbericht gelten. Er war für die christlichen Gemeinden ja von ganz besonderer Bedeutung.
- Ganz am Ende dieses Prozesses stehen dann die unterschiedlichen Evangelienzusammenstellungen durch die Evangelisten, die man sich einmal als Redaktoren, dann aber auch in dieser Tätigkeit als schöpferisch tätige Theologen denken muss.
Einige Exegeten, wie z. B. Rudolf Pesch, glauben heute, dass man davon ausgehen muss, dass vor den Evangelienzusammenstellungen bereits mehrere Teilsammlungen existierten. Pesch rekonstruiert beispielsweise folgende Textsammlungen, die dann also bereits in der ersten Generation nach dem Ostergeschehen vorgelegen haben müssten:
1. Die Gleichnissammlung Mk 4,1-34
Als erstes fallen in Mk 4 beispielsweise drei Gleichnisse ganz besonders auf, nämlich
- das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,1-9),
- das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29)
- und das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30-32).
Sie fallen vor allem deswegen ins Auge, weil alle drei Gleichnisse von der Aussaat und dem Wachstum handeln.
Hinzu kommen
- das Gleichnis von der Lampe (Mk 4,21-23)
- und das Gleichnis vom Maß (Mk 4,24-25).
Diese beiden haben zwar andere Themen zum Inhalt, es muss aber aufmerken lassen, dass sie genau mit den gleichen Worten eingeleitet werden, wie die anderen drei Gleichnisse. Sie beginnen jeweils mit :
Καὶ ἔλεγεν ["Kaì élegen"] - "Und er sprach"
Diese Einleitung nennt man Reihungsformel. Sie ist ein klassisches Mittel, um mehrere Worte, die möglicherweise aus einer je eigenen Situation stammen, in eine gleichgeordnete Folge zu bringen.
Ein weiterer wichtiger Hinweis ist Mk 4,33. Hier findet sich eine Formulierung, die sich wie der Abschluss einer Erzählung oder eines Berichtes liest:
"Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten." (Mk 4,33.)
Man kann nun vermuten, dass hier zunächst einmal drei Gleichnisse, die sich alle ums Aussäen drehten, gesammelt und zusammengestellt worden sind.
Ich erinnere nur daran, was ich über die Stichwortassoziation gesagt habe. Das Stichwort "säen" diente gleichsam als Schnur auf der die drei Gleichnisse wie Perlen aufgereiht werden konnten.
Man hat also diese drei "Saatgleichnisse", vermutlich für die Verwendung im Gottesdienst, zusammengebunden und immer dann, wenn ein neues Gleichnis begann, dies mit den Worten Καὶ ἔλεγεν ["Kaì élegen"] - "Und er sprach" - eingeleitet.
Diese Sammlung dürfte wohl schon lange vor der Zusammenstellung des Markus-Evangeliums vorgelegen haben.
Jetzt lässt sich lediglich darüber spekulieren, ob Markus diese Gleichnissammlung so vorgefunden hat und dann kräftig überarbeitete und erweiterte, oder ob ein anderer schon zuvor diese Zusammenstellung überarbeitet hat.
Es lässt sich nämlich feststellen, dass diese ursprünglich wohl aus drei Gleichnissen bestehende Sammlung nun verschiedene Erweiterungen erfahren hat.
Zunächst dürften in diese Gleichnissammlung die beiden anderen Gleichnisse "vom Maß" und "von der Lampe", wieder mit der bekannten Reihungsformel eingeleitet, eingefügt worden sein.
Und dann wurde in Mk 4,10-12 ein - quasi theoretischer - Absatz über den Sinn von Gleichnissen überhaupt hinzugefügt, der sicher ursprünglich in dieser Sammlung nicht vorhanden war.
Und ganz am Schluss scheint dann noch eine Auslegung zum Gleichnis vom Sämann in Mk 4,13-20 eingefügt worden zu sein. Diese dürfte aber wohl sicher erst mit der Redaktion des Evangeliums hier platziert worden sein.
Die Auslegung zum Gleichnis vom Sämann ist im übrigen gleichsam eine Predigt über das Gleichnis. Ganz deutlich spürt man hinter diesen Zeilen die konkrete Erfahrung der christlichen Gemeinde. Die Folie, auf deren Hintergrund hier gesprochen wird, sind Not und Drangsal der ersten Jahrzehnte des Christentums. Wir haben hier also ein Beispiel vor uns, wie ein Jesuswort auf die konkrete Situation der Hörer hin ausgelegt wurde.
Auf jeden Fall, so können wir abschließend festhalten, bietet uns Mk 4 eine Reihe von Hinweisen - besonders durch die Reihungsformel -, dass hier bereits vor der Evangelienabfassung eine schriftliche Gleichnissammlung vorgelegen haben dürfte. Mehrfach erweitert wurde sie vom Evangelisten in seinen Textzusammenhang eingebaut.
2. Der Wundergeschichtenzyklus Mk 3-6
Auch eine Reihe von Wundergeschichten, die in Mk 3-6 begegnen, weisen einige Besonderheiten auf. Diese Besonderheiten lassen vermuten, dass auch hier eine schon vorher abgefasste Sammlung vom Verfasser des Markus-Evangeliums verwendet werden konnte.
Es muss schließlich auffallen, dass alle Wunderberichte mit der Erwähnung einer Bootsfahrt verknüpft sind.
Sehen wir uns die heutige Abfolge der Perikopen bei Markus daraufhin einmal genauer an:
Durch die unterschiedlichen Notizen über die Seefahrt wird ganz offensichtlich ein Rahmen gebildet, der eine ganze Reihe von Wundergeschichten zu einem Ganzen zusammenfasst. Das was bei der vermuteten Gleichnissammlung offensichtlich durch die Reihungsformel "und er sagte" geleistet wurde, wird nun durch die Erzählung von der Seefahrt ermöglicht: unterschiedliche Wunderberichte werden zu einer eigenen Geschichte verwoben.
Auch hier können wir also vermuten, dass schon vor der Zusammenstellung der großen Evangelien, einige Wundererzählungen miteinander verknüpft worden sind und als eigener Wundergeschichtenzyklus tradiert wurden.
Dieser Zyklus lag dem Verfasser des Markus-Evangeliums offenbar bereits vor. Er hat ihn dann wahrscheinlich durch die Einfügung weiteren Traditionsstoffes, nämlich der Gleichnissammlung von Mk 4,1-34 und der Aussendungsrede von Mk 6,1-32 gleichsam aufgesprengt und in seine Evangelienkomposition eingebaut.
3. Die Katechetische Sammlung in Mk 10
Eine dritte Sammlung von Jesus-Überlieferung bereits vor der Zusammenstellung der großen Evangelien können wir hinter Mk 10 vermuten. Hier fallen drei Perikopen auf, die alle ethische Fragen, sowohl individueller als auch sozialer Art, betreffen. Alle drei beginnen damit, dass eine Gruppe von Leuten bzw. einzelne zu Jesus kommen und ihm eine Frage stellen.
Die Stellen handeln im einzelnen:
- von der Eheschließung (Mk 10,1-12),
- von der Nachfolge (Mk 10,17-31)
- sowie von der Rangordnung der Jünger (Mk 10,35-45)
Auch diese drei Perikopen könnten demnach bereits eine vormarkinisch verschriftete Sammlung gewesen sein.
4. Die vormarkinische Passionsgeschichte
a. Die wissenschaftliche Diskussion
Von einem Nagel durchbohrtes Fersenbein aus einem
1968 im Norden Jerusalems entdeckten Grab.
Lizenz: Derek Winterburn, Yohanan ben Hagkol's heel,
Attribution-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0)
Während die drei genannten Sammlungen in der Forschung unterschiedlich diskutiert werden, ist man sich in einem Punkt doch recht einig. Man nimmt heute allgemein an, dass bereits vor Markus ein Passionsbericht vorlag. Der Bericht vom Sterben und von der Auferstehung des Herrn war so wichtig für die ersten Christengemeinden, dass ein Passionsbericht mit großer Sicherheit recht rasch schriftlich fixiert worden ist.
Ich habe im Blick auf die Eigenart der Evangelien ja bereits darauf hingewiesen, dass die Berichte vom Leiden des Herrn auch schon einen anderen Charakter haben, als die übrigen Teile der Evangelien. Hier liegen nicht schematisch zusammengefügte Perikopen vor, sondern eine echte Abfolge von Ereignissen. Hier sind eine Fülle von Namen überliefert und recht exakte topographische Angaben, zumindest wohl für einen Hörer der damaligen Zeit.
In der Forschung ist jetzt lediglich umstritten, was zu dieser vormarkinischen Passionsgeschichte genau gehörte. Wo fing sie an und welche Teile des heutigen Markus-Evangeliums umfing sie?
Den weitgehendsten und vielleicht auch gewagtesten Vorschlag hat hier Rudolf Pesch vorgelegt. In seinem Markus-Kommentar rekonstruiert er eine Passionsgeschichte, die - wenn seine These zuträfe - einen bedeutenden Umfang gehabt hätte.
Sein Vorschlag hat wenig Anklang bei den Neutestamentlern gefunden, aber er ist so interessant, dass ich hier doch ausführlicher auf ihn eingehen möchte, zumal er darüber hinaus auch einen kleinen Einblick in das exegetische Arbeiten ermöglicht.
b. Selbständige und unselbständige Erzähleinheiten
Rudolf Pesch geht von der Beobachtung aus, dass die Erzähleinheiten grundsätzlich von unterschiedlichem Charakter sind.
Die kleinen Einheiten, in die man den Text des Markus-Evangeliums etwa zerlegen kann, unterscheiden sich ja dadurch, dass einzelne Einheiten ganz selbständig für sich erzählt werden können, ohne dass etwas von ihrer Aussage verloren geht. Andere Erzähleinheiten wiederum bedürfen des Zusammenhangs, in dem sie stehen. Ohne ihn werden sie unverständlich.
Wir sprechen hier von selbständigen und unselbständigen Erzähleinheiten.
Eine selbständige Erzähleinheit wäre beispielsweise Mk 1,40-45:
"Und es kommt zu ihm ein Aussätziger, fleht ihn kniefällig an und sagt ihm: 'Wenn du willst, kannst du mich reinmachen!'
Und erregt streckte er seine Hand aus, berührte ihn und sagt ihm: 'Ich will! Werde rein!'
Und gleich wich von ihm der Aussatz, und er wurde rein.
Und er schnaubte ihn an und schickte ihn gleich hinaus und sagt zu ihm:
'Sieh zu, dass du niemand etwas sagst! Vielmehr, geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose festgesetzt hat, ihnen zum Zeugnis!'
Er aber ging hinaus und begann, [eifrig zu verkündigen und]
⋅2⋅ die Sache zu verbreiten, [so dass er nicht mehr öffentlich in eine Stadt hineingehen konnte; vielmehr blieb er draußen an abgelegenen Orten] ⋅3⋅. Und sie kamen zu ihm von überallher." (Mk 1,40-45.)
Diese Erzählung setzt ohne Orts- und Zeitangabe ein, also ohne erkennbare Kontextbindung. Der Evangelist hätte sie ebenso gut an eine andere Stelle seines Evangeliums rücken können, ohne dass etwas von der Aussage dieser Perikope verlorengegangen wäre. Die Erzähleinheit hat daneben auch einen klaren Abschluss. Sie verlangt also nach keiner Fortführung. Der Bericht, der hier geboten wird, ist völlig komplett und steht selbständig für sich da.
Eine nichtselbständige Erzähleinheit liegt beispielsweise in Mk 11,27-33 vor. Sie beginnt mit den Worten:
"Und sie kommen wiederum nach Jerusalem. Und während er im Tempel umhergeht kommen zu ihm die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Ältesten und sie sagten ihm: 'In welcher Vollmacht tust du diese (Dinge)? Oder wer hat dir diese Vollmacht gegeben, diese (Dinge) zu tun?" (Mk 11,27-33.)
Das Wörtchen "wiederum" am Beginn dieser Einheit verweist auf etwas was zuvor schon erzählt worden sein muss. Es setzt also bereits einen Bericht voraus. Auch der Bezug auf irgendwelche Dinge, die Jesus anscheinend getan hat, verweist auf etwas, was dem Hörer bereits mitgeteilt worden sein muss. Dieser Text lässt sich dementsprechend nicht ohne seinen Zusammenhang weitererzählen. Er ist fest an den vorausgehenden Zusammenhang gebunden. Die Einheit ist unselbständig.
c. Der Rekonstruktionsversuch von Rudolf Pesch
Rudolf Pesch versucht nun zu zeigen, dass in der ersten Hälfte des Markus-Evangeliums die selbständigen Erzähleinheiten dominieren, in der zweiten aber die unselbständigen. Vom Kreuzesgeschehen ausgehend verfolgt er nun die unselbständigen Einheiten und versucht dadurch zu ermitteln, wo der aus diesen Einheiten zusammengefügte Bericht seinen Anfang genommen haben könnte. Und für ihn kommt als solch ein Erzählbeginn im Markus-Evangelium lediglich Mk 8,27 in Frage.
Von daher rekonstruiert er als vormarkinische Passionsgeschichte folgende Abschnitte des Markus-Evangeliums:
Dieser umfangreiche Bericht ist für Rudolf Pesch die bereits vor Markus schriftlich fixierte Passionsgeschichte.
Pesch glaubt dabei - wie in dieser Übersicht angedeutet - einen kunstvollen Aufbau zu entdecken. Es handelt sich nach ihm um 39 Erzähleinheiten in 13 Dreiergruppen.
Die übrigen Stellen, die sich heute zusätzlich im Markus-Evangelium finden, sind selbständige Erzähleinheiten, die ursprünglich nicht zu dieser vormarkinischen Passionsgeschichte gehört haben sollen. Sie seien dann vom Verfasser des Markus-Evangeliums in dieselbe eingefügt worden. ⋅4⋅
Das interessante an Peschs Theorie ist nun folgende Überlegung. In diesem, von ihm so rekonstruierten Text wird an keiner Stelle, der Name des Hohenpriesters genannt. Es wird überall nur von "dem Hohenpriester" gesprochen. Rudolf Pesch geht nun davon aus, dass dies nur zu einer Zeit sinnvoll gewesen sein kann, in der jeder wusste, wer dieser Hohepriester ist. Das muss für ihn zwangsläufig die Zeit gewesen sein, in der dieser Hohepriester noch im Amt gewesen ist. Kajaphas amtierte aber bis 36 n. Chr. und das heißt für Rudolf Pesch, dass bereits vor 36 n. Chr. diese vormarkinische Passionsgeschichte und damit ein großer Teil des heutigen Markus-Evangeliums schriftlich vorgelegen haben müsse.
Nach Rudolf Pesch wäre diese vormarkinische Passionsgeschichte also das älteste schriftliche Glaubenszeugnis der Christenheit überhaupt.
Anmerkungen