Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Entwicklung der Schriftauslegung ⋅1⋅

Diese Verstehenslehre hat sich in der Geschichte langsam entfaltet. Ihre Entwicklung nachzuvollziehen ist für das eigene Verstehen der Schrift recht hilfreich. Ich versuche daher den Prozess der Entwicklung der Schriftauslegung an dieser Stelle ganz kurz nachzuzeichnen.

1. Antike

Hierbei ist schon einmal wichtig zu sehen, dass die ersten Christen neben den alttestamentlich inspirierten Urkunden auch die überlieferten Methoden der Auslegung übernahmen. Sie kannten den Schriftbeweis, die typologische Auslegung eschatologischer Dinge sowie die allegorische Schriftauslegung.

Die gleichen Methoden der Auslegung wurden später bei den neutestamentlichen Schriften angewandt.

Schon in dieser Frühzeit war die Auslegung dabei vor schwierige Aufgaben gestellt. Sie musste nämlich mit einer Fülle von anstößigen, spröden und widersprüchlichen Texten zurande kommen. Die Betrugsgeschichten, die ewigen Genalogien des Alten Testamentes etwa und die anthropomorphen Aussagen über Gott waren Probleme, denen sich die Auslegung von Anfang an nicht entziehen konnte.

Dieses Problembewusstsein war bei den Kirchenvätern bereits voll ausgebildet. Origenes hat z. B. die Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Bibel deutlich wahrgenommen. Er zeigt die Widersprüche in den Evangelien geradezu auf. Eine Lösung der Schwierigkeiten fand er in der allegorischen, der geistlichen Auslegung der Texte. Neben der wörtlichen Auslegung, die uns an manchen Stellen ja in große Schwierigkeiten führt, gab es für ihn eben noch die allegorische Deutung. Mittels dieser gleichsam symbolischen Auslegung versuchte er die Schwierigkeiten zu überwinden.

Origenes steht demnach bereits in der Tradition der hermeneutischen Überlieferung des griechisch-hellenistischen Kulturkreises. Sie wurde ja in Alexandrien ganz besonders gepflegt. In dieser Überlieferung wurde neben der streng grammatischen Methode der Textanalyse die allegorische Auslegung entwickelt, auch bei klassischen Dichtungen wie Homer und Hesiod. Diesen Stücken versuchte man dadurch einen aktuellen, philosophischen oder pädagogischen Sinn abzugewinnen.

Dabei bemühte sich die allegorische Deutung überlieferter Mythen der Griechen, wie sie etwa die Stoa ausgebildet hat, der Ehrfurcht vor den alten, heiligen Texten ebenso gerecht zu werden wie der Notwendigkeit rationaler, aufgeklärter und moralischer Unterweisung in der Gegenwart. Die allegorisierende Auslegung versuchte dabei, den Wortsinn der Texte durch eine spekulative tiefsinnige Bedeutung zu überbieten. Hier können wir ein Erbe des Platonismus greifen.

Diese Verdoppelung des Schriftsinnes, die ursprünglich also in der griechischen Philosophie wurzelt, ist nun in das hellenistische Judentum über Philo und andere und dann auch in die christliche Schriftauslegung seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. eingegangen. In der ganzen Antike, bis hin zum Mittelalter, ist diese Art des Umgangs mit der Schrift bestimmend geblieben.

Origenes war es, der sich darum bemüht hat, diese Schriftauslegung systematisch zu begründen. Dies war auch notwendig, denn die allegorische Schriftauslegung war nicht unumstritten. In der antiochenischen Exegetenschule etwa wurde viel stärker die historisch grammatische Exegese betont und eine typologische Auslegung betrieben.

Lange Zeit haben beide Methoden in der allgemeinen kirchlichen Praxis durchaus nebeneinander existieren können. Egal nach welcher Methode man nämlich an die Schrift heranging, klar war, dass die Ergebnisse der jeweiligen Schriftauslegung sachlich an die Kirche und ihren Glaubenskonsens, die sogennante "regula fidei" gebunden blieben.

Auch Origenes gibt davon ein eindrucksvolles Bekenntnis in seinem Kommentar zum Buch Josua. Er sagt, dass er als Exeget sich ausdrücklich als Glied der Kirche verstehe und Auslegung kirchlich betreiben wolle. Die Ergebnisse seiner Schriftauslegung sah er an den kirchlichen Glaubenskonsens gebunden. So schreibt Origenes:

"Wenn ich, der ich deine (der Kirche) rechte Hand zu sein scheine, der ich den Priesternamen trage und das Wort Gottes zu verkünden habe, etwa gegen die kirchliche Regel und die Regel des Evangeliums verstieße, so dass ich dir, Kirche, zum Ärgernis würde, so möge mich die gesamte Kirche in einhelligem Beschluss, mich, ihre rechte Hand abhauen und von sich werfen."

2. Mittelalter

Im Mittelalter wurde diese Art der Schriftauslegung noch einmal verfeinert. Man ging nicht mehr nur von einem doppelten Schriftsinn aus, sondern konstruierte gleich noch einmal drei Unterformen des geistigen Schriftsinns. Man unterschied dementsprechend den:

  • sensus litteralis,
  • sensus allegoricus,
  • sensus moralis,
  • und sensus anagogicus.

Zur Unterscheidung dieser vier Schriftsinne gab es einen netten Merksatz:

"littera gesta docet,
"Der Buchstabe lehrt die Taten,
→ Exegese
quid credas allegoria,
was du glauben sollst, die Allegorie,
→ Dogmatik
moralis qui agas,
was du tun sollst, die Moral,
→ Moral­theologie
qua tendas anagogia"
wonach du zielen sollst, die Anagogie."
→ Eschatologie

Daraus kann man bereits ersehen, wie man diesen vierfachen Schriftsinn unterschied. Man suchte in der Schrift

  • nach dem buchstäblichen, dem wörtlichen Sinn, also nach dem Zeugnis der Geschichte,
  • man befragt die Schrift im Blick auf den Glauben und die Lehre der Kirche,
  • nach den Anforderungen des christlichen Handeln, also der Moral,
  • und im Blick auf die christliche Hoffnung, die Enderwartung einschließlich der Geheimnisse Gottes, also die Eschatologie.

3. Von der Reformation zur Aufklärung

In der Reformation wurde dann ein weitreichender Schritt getan. Man löste die Schriftauslegung von der umfassenden Autorität der Kirche. Nicht umsonst konnte die historisch-kritische Methode später zuallererst von der protestantischen Theologie vorangetrieben werden. Die Rezeption der historisch-kritischen Methode in der katholischen Theologie hat in unserem Jahrhundert zu vielfältigen Spannungen geführt. Exegese und kirchliches Lehramt standen sich oftmals unversöhnlich gegenüber. Nicht zuletzt das Ringen um die Konzilskonstitution "Dei Verbum" spiegelt diese Geschichte wider.

Im nachreformatorischen Verständnis erfuhr man das biblische Wort vorzüglich im unmittelbaren Betroffensein des einzelnen. Das Wort Gottes verstand man als die lebendige Anrede Gottes, die den Hörer in seiner Vereinzelung zur Verantwortung des Glaubens und zum Bekenntnis ruft. Im verkündigten Wort oder im gelesenen Wort der Bibel ist der erhöhte Christus - so sagt die reformatorische Theologie - selbst gegenwärtig und wirksam.

Das Wort Gottes hat demnach seine eigene Dynamik. Und in ihr greift das Wort nach uns und schafft Glauben oder Unglauben, Leben oder Tod. Das Schriftwort wurde also neu verstanden nicht so sehr als geschriebenes Wort, sondern als schriftlich fixiertes mündliches Wort, als "viva vox", als lebendige Rede, wie die Reformatoren sagen. Das Schriftwort war deshalb vorzüglich Predigtwort, das von der mündlichen Predigt herkommt und in der mündlichen Predigt auch auszulegen ist.

Die Reformatoren meinten, dieses neue Schriftverständnis sei unvereinbar mit der Vorordnung eines kirchlichen Lehramtes. Die Schrift bedürfe keiner übergeordneten Auslegungsinstanz, denn sie sei in ihren entscheidenden Aussagen klar und eindeutig, sie lege sich selbst aus, sie sei ihr eigener Interpret, wie Martin Luther sagt.

Dadurch wurde der Verdoppelung des Schriftsinns letztlich der Boden entzogen.

In der Aufklärung kam diese reformatorische Sicht der Schriftauslegung jedoch in eine erste Krise. Die Aufklärung deckte schließlich auf, dass die Wendung der Reformation sich trotz allem im Medium eines eher geschichtslosen allgemeinen Wahrheitsbewusstseins vollzog. Mit und nach der Aufklärung brach dann endgültig, wie Lessing formulierte, der garstige Graben auf zwischen der historischen Situation des Textes und der Situation des heutigen Auslegers.

4. Neuzeit

Aus diesem Bewusstsein, aus dem Bewusstsein der historischen Distanz der Dokumente zum Ausleger, brach die Problematik der Hermeneutik der Neuzeit erst richtig auf. Die biblische Hermeneutik versuchte nun den historischen Abstand zwischen der Urkirche und der Gegenwart verstehend zu überbrücken. Sie wollte demnach zugleich historisch-kritische wie auch theologische Schriftauslegung sein.

Die reformatorische Theologie wurde so in einem neuen Sinn zur kritischen Schriftauslegung gegen Orthodoxie einerseits und schwärmerischer Schriftauslegung andererseits. Man befolgte die Forderung der Humanisten im Blick auf die Arbeit an den Texten und gab erstmals kritische Textausgaben heraus. Mit dem Aufkommen der Buchdruckkunst geriet die Überlieferung der Schrift dadurch in den Horizont einer wissenschaftlichen Beschäftigung, zu der nach und nach andere wissenschaftliche Hilfsmittel hinzukamen.

Damit tauchte aber die Frage auf, wie sich die Schrift, die bis dahin mehr oder weniger fraglos als Offenbarungsurkunde mit Autorität akzeptiert worden war, jetzt unter dem Zugriff wissenschaftlicher Kritik begreifen lassen sollte. Keine Frage, dass eine Reihe von Gegenreaktionen gegen diese wissenschaftliche Sezierung der Texte um sich griffen. Allein auf protestantischer Seite entstand etwa die Lehre von der Verbalinspiration. Manch wissenschaftsfeindliche Gruppierung oder auch der Pietismus zogen sich auf sie zurück.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkung

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button