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Weiter-ButtonZurück-Button Wesentliche Unterschiede zwischen der Offenbarung des Johannes und der jüdischen Apokalyptik ⋅1⋅

Die sogenannte Offenbarung des Johannes, auch Johannes-Apokalypse genannt, gehört grundsätzlich zu dieser Art von Offenbarungsliteratur, die wir gerade betrachtet haben. Sie berichtet von einer Gegenwart, die die Zeit der letzten Trübsal darstellt. Die widergöttlichen Mächte entfalten in dieser Gegenwart ihre ganze Dämonie. Die Zukunft aber wird ganz anders sein. Sie wird die Zeit sein, in der Gottes Herrschaft für seine Getreuen ganz offenbar wird.

Dieses Grundanliegen teilt die Johannes-Apokalypse mit den übrigen Werken der jüdischen Apokalyptik. Es gibt aber auch ganz charakteristische Unterschiede, die deutlich machen, dass die Offenbarung des Johannes das klassische Schema der Apokalypsen durchbricht.

1. Standpunkt der Gegenwart

So schreibt der Verfasser vom Standpunkt der Gegenwart aus. Er setzt sein Werk also nicht an einem fiktiv in der Vorzeit angenommenen Punkt an. Sein Standort ist die Zeit, in der er lebt. Hier wird deutlich, dass für den Autor der neutestamentlichen Apokalypse die Vergangenheit nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie für die jüdischen Autoren. Er schreibt aus seiner Zeit heraus, aus der Zeit des Christentums.

2. Die Wende der Geschichte hat bereits stattgefunden

Auch ist für ihn die Wende der Geschichte bereits eingetreten. Er wartet nicht darauf, dass der neue Äon beginnt. Mit Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi hat für ihn nämlich die neue Zeit bereits begonnen. Es geht für ihn nun lediglich noch um eine Wende innerhalb der eschatologischen Zeit, also innerhalb des zweiten Äons.

Auch dies ist ein Grund dafür, warum sich in der Johannes-Apokalypse nur noch chiffrierte Darstellungen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart finden. Die Zeit vor der Zeitenwende interessiert nicht mehr. Inbegriff für den Beginn der neuen Zeit ist für den Verfasser der Apokalypse die Inthronisation des Lammes, Symbol für den auferweckten Christus. Diesen Vorgang schildert er in Offb 4-5. Er hat also bereits stattgefunden, die neue Zeit ist bereits da.

Deshalb können auch die Lieder auf den Sieg des Lammes schon jetzt gesungen werden. Man kann in ihnen den endgültigen Sieg im Hinblick auf die nahe Parusie bereits jetzt gleichsam vorwegnehmend besingen.

3. Das Buch ist keine alte Botschaft

Ein weiterer Unterschied zur jüdischen Apokalyptik ist der Umstand, dass das Buch nicht als alte Botschaft dargestellt wird. Normalerweise wird in dieser Literaturgattung eine alte Botschaft, die allein für die Nachwelt bestimmt ist, versiegelt. Die Apokalypse des Johannes ist aber eine Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, damit er seinem Knecht zeige, was geschehen muss, und zwar in Bälde, wie Offb 1,1 sagt.

Dies wird auch in Offb 22,10 ausgedrückt: Das Buch soll gerade nicht versiegelt werden. Der Verfasser erhält gleichsam den Auftrag, die Schrift an die Gemeinden weiterzuleiten.

Die sieben Sendschreiben unterstreichen dies nur noch einmal. Die Botschaft ist nicht für die Nachwelt, sie ist für die Kirche der jeweiligen Gegenwart bestimmt.

4. Kein Pseudonym

So schreibt der Verfasser auch nicht unter einem Pseudonym. Er gibt nicht vor, dass sein Werk von einem großen Mann der Vorzeit stammt. Hier schreibt ein "Knecht Jesu Christi", wie die Offenbarung selbst angibt. Der Verfasser ist ein Mann, der sich selbst als christlicher Prophet begreift. Auch wenn er sich der alten apokalyptischen Stilmittel bedient, so fühlt er doch ganz als Mensch der neuen, in Jesus Christus angebrochenen Zeit.

5. Das Martyrium ist kein Theodizeeproblem mehr

Zu dieser Zeit gehört auch, dass das Martyrium kein hervorstechendes Theodizeeproblem mehr ist. Gottes Gerechtigkeit wird nicht mehr hinterfragt. Es gibt keinen Anklagepunkt gegen Gott. Nachdem das Lamm bereits inthronisiert ist, sind die unschuldig leidenden und verfolgten Christen grundsätzlich im Heil. Die Frage, nach dem "ob" des Heiles stellt sich daher nicht mehr. Es geht eigentlich nur noch um das "wann". Die neue Fragestellung ist demnach, wann Gottes Herrschaft in dieser Welt vollkommen und endgültig anbricht.

6. Die Weltherrschaft Gottes

Hierzu passt auch, dass Gottes Weltherrschaft in der neutestamentlichen Apokalypse eigentlich nie in Frage steht. Im Blick auf den Sieg Gottes in Jesus Christus wird diese Weltherrschaft weit stärker betont als in den jüdischen Apokalypsen. Gott hat nach der Offenbarung des Johannes sein Regiment dem Widersacher nie ganz in die Hand gegeben. Die Macht der widergöttlichen Elemente ist nur begrenzt.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkung

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button