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Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Der erste Thessalonicherbrief ⋅1⋅

Nach der Betrachtung der vorpaulinischen Traditionen wollen wir uns nun den einzelnen paulinischen Briefen selbst zuwenden. Ich versuche dies hier nun in der Reihenfolge ihrer Entstehung und dementsprechend beginnen wir mit dem ältesten der sogenannten "echten" Paulusbriefe, nämlich mit dem 1. Thessalonicherbrief.

Da wir es beim 1. Thessalonicherbrief mit einem regelrechten Brief zu tun haben, können wir hinter diesem Schreiben auch ein richtiges Briefformular entdecken.

1. Das Briefformular des Paulus

Dabei fällt auf, dass Paulus für alle seine Briefe ein einheitliches Briefformular verwendet. Er schreibt so, wie man in der damaligen Zeit eben Briefe geschrieben hat, das heißt, er steht mit seinem Briefformular in der kulturhistorischen Tradition seiner Zeit.

Dieses Formular beginnt nun klassischerweise mit einem Präskript, einem Briefeingang. Für solch ein Präskript gab es in der damaligen Zeit zwei gängige Formen.

  • Es gab zum einen die einteilige, griechische Form. Bei ihr wird in der Grußformel der Absender und Empfänger genannt. Ein Beispiel hierfür findet sich in etwa in Apg 15,23. Dort heißt es:
    "Die Apostel und die Ältesten eure Brüder, grüßen die Brüder aus dem Heidentum in Antiochia, in Syrien und Zilizien." (Apg 15,23)
  • Daneben gab es die zweiteilige, orientalisch-jüdische Form des Briefeinganges. Bei ihr wurde an die Grußformel ein ausdrücklicher Segenswunsch angehängt.

Paulus verwendet in aller Regel die zweiteilige, orientalisch-jüdische Form.

Als Besonderheit folgt bei ihm auf diesen Briefeingang in aller Regel noch eine Danksagung an Gott. Sie gehört formal noch zum Präskript. Lediglich im Galaterbrief fällt diese Danksagung aus. Aus dem Inhalt desselben lässt sich denn auch schließen, dass es in diesem Briefzusammenhang wohl nichts zu danken gab.

Nach dieser ansonsten obligatorischen Danksagung folgt dann das Briefcorpus, in dem die anstehenden Fragen und Probleme behandelt werden.

Danach wird der Brief durch das Postscript geschlossen. Es enthält die Grüße an die Gemeinde sowie darüber hinausgehende Grußbestellungen an bekannte Persönlichkeiten und Freunde des Briefschreibers. Den Schluss bildet dann in der Regel ein Segenswunsch.

2. Die Adressaten des Briefes und die Umstände der Gemeindegründung

Die Briefe, die Paulus schreibt, sind im Grunde nichts anderes als die Fortführung seiner missionarischen Tätigkeit. So ist auch der erste Thessalonicherbrief auf diesem Hintergrund zu sehen.

Paulus schreibt an die von ihm gegründete Gemeinde in Saloniki (vgl. 1 Thess 1,1). Saloniki war die Hauptstadt der Provinz Makedonien und Sitz eines römischen Prokonsuls.

Via Egnatia

Die Via Egnatia bei Kavala (Neapolis) im Jahre 2011.

Foto-ButtonLizenz: Philipp Pilhofer, Kavala egnatia 2, CC BY-SA 3.0

Die Umstände der Ge­mein­de­gründung können wir aus dem ersten Thes­salonicherbrief selbst und der Apo­stel­ge­schichte (Apg 17,1-10) ent­neh­men.

Paulus und seine Mit­arbeiter kamen aus Philippi, das sie hatten verlassen müssen (Apg 16,19-40, 1 Thess 2,2). Sie zogen über Am­phi­polis und Appolonia auf der sogenannten "via eg­natia", die das Schwar­ze Meer mit Ko­rinth und Rom verband, nach Saloniki. Dort fanden sie nach den Ereignissen in Philippi den Mut, neu anzufangen (1 Thess 2,2).

Zunächst suchten sie - wie es Paulus gewöhnlich tat - wohl auch hier Unterkunft und Arbeit (1 Thess 2,9). Mission in diesem Stil war auch bei geringen Ansprüchen schließlich ein recht teures Unterfangen. Überfahrten, Reisekosten und Verpflegung schlugen kräftig zu Buche. Paulus hat es dabei ständig vermieden - wie er selbst schreibt -, sich von seinen Gemeinden unterhalten zu lassen.

Gepredigt wurde vorab in der Freizeit. Aber man kann sich sicher auch gut vorstellen, dass es Gelegenheiten gab, während der handwerklichen Tätigkeit etwa, je nachdem wie es sich ergab, Mission zu betreiben.

Die Missionsarbeit in Saloniki begann - wie so oft - im Umkreis der dortigen Synagoge. Unmittelbarer Anknüpfungspunkt waren deren Gottesdienst und Lehrbetrieb. Dabei kam den christlichen Missionaren in dieser Frühzeit zu Nutze, dass es in den jüdischen Synagogen jedermann frei stand, die Schrift auszulegen, sofern er vom Synagogenvorsteher zugelassen wurde. Wenn Fremde in die Stadt kamen, ließ man diese natürlich gerne die Schriftauslegung halten, vor allem, wenn sie - wie Paulus - einen gelehrten Eindruck machten. Auch unsere Gemeinden freuen sich ja gemeinhin, wenn sie einmal jemand anders die Predigt halten hören.

Nach Apg 17,1-4 konnte Paulus in Saloniki auch einige Proselyten und Frauen bekehren. Insgesamt scheint er jedoch wenig Erfolg gehabt zu haben.

Wenn man auch der Darstellung der Apostelgeschichte grundsätzlich sehr vorsichtig begegnen muss, so dürfte sich das ganze doch so oder wenigstens ähnlich abgespielt haben.

Der 1. Thessalonicherbrief widerspricht der Darstellung der Apostelgeschichte in we­sent­lichen Punkten zumindest nicht. Nach 1 Thess 1,9 und 1 Thess 2,14 rekrutierte sich die Gemeinde in Saloniki vorwiegend aus Heiden. Dies würde bestätigen, dass zunächst wohl unter den Gottesfürchtigen einige Bekehrungen zu verzeichnen waren.

Apg 17,5-9 nennt nun den neubekehrten Jason als Gastgeber des Paulus. Sein Haus war wohl so etwas wie der Versammlungsort der neuen Gemeinde. Alle frühen Gemeinden existierten ja zunächst als solche Hausgemeinden.

Nach Apg 17,2 hat Paulus nur drei Sabbate in der Stadt gepredigt. Entweder meint der Verfasser dies schematisch oder er verarbeitet hier Nachrichten darüber, dass Paulus tatsächlich nach drei Wochen schon nicht mehr in der Synagoge zugelassen war. Angesichts der Unruhe die seine Predigt in diese jüdische Diasporagemeinde gebracht hatte, wäre dies nicht verwunderlich.

Wir können allerdings nicht davon ausgehen, dass Paulus nur drei Wochen in Saloniki gewesen ist. Nach 1 Thess 2,7-12 und Phil 4,15, wo die Geldspende der philippinischen Gemeinde erwähnt wird, ist durchaus mit einer längeren Wirkungszeit in Saloniki zu rechnen. Unserem Chronologieversuch zufolge etwa mit einem halben Jahr.

Am Ende dieser Zeit standen aber auch in Saloniki Unruhen und letztlich eine Verfolgung. Vermutlich handelte es sich dabei zunächst um eine Aktion der Juden gegen Paulus (Apg 17,5-9; 1 Thess 2,16). Auf jeden Fall waren in der Folge dieser Ereignisse Paulus und Silas gezwungen die Stadt zu verlassen.

3. Der Anlass des Briefes

Paulus und Silas werden nun von der Gemeinde in Saloniki nach Beröa geschickt (Apg 17,10-15). Dort wurden sie im Umfeld der jüdischen Synagoge freundlich aufgenommen.

Verschiedentlich hat Paulus anscheinend in der Folge erwogen, nach Saloniki zurück­zu­kehren wie er 1 Thess 2,18 schreibt. Es drängte ihn gleichsam, die dort abgebrochene Arbeit zu vollenden. Zunächst aber scheint ihm die Rückkehr nach Saloniki unmöglich gewesen zu sein. So wendete er sich zwischenzeitlich in Beröa der Mission zu.

Paulus gründete nun auch dort eine Gemeinde, was anscheinend bis nach Saloniki bekannt wurde. Dadurch drohte neue Gefahr (Apg 17,13ff). Juden aus Saloniki versuchten in Beröa Stimmung gegen Paulus zu machen. So sah sich die christliche Gemeinde von Beröa gezwungen, Paulus - und, wie man aus 1 Thess 3,1ff schließen kann, auch Timotheus, der anscheinend ebenfalls in Beröa weilte - an die Küste zu bringen. Von dort aus flohen beide und reisten mit dem Schiff nach Athen weiter.

Silas dürfte zurückgeblieben sein. Vermutlich war er nicht ganz so exponiert wie Paulus und Timotheus und konnte so das Missionswerk in Beröa weiterführen. Das war auch für die weitere Entwicklung in Thessaloniki wichtig. Silas war anscheinend auch in der Lage, den Kontakt zu Saloniki aufrecht zu halten.

Die Apostelgeschichte schildert nun, dass neben Silas auch Timotheus in Beröa zurückgeblieben sein soll. Das dürfte nicht korrekt sein. Timotheus wird nun nämlich, wie Paulus 1 Thess 3,1f schreibt, von Athen aus nach Saloniki geschickt.

Paulus reist, nachdem Timotheus in Richtung Saloniki aufgebrochen war, nach Korinth, wie Apg 18,1 ausführt. Wenn die Apostelgeschichte in Apg 18,5 weiter davon spricht, dass Timotheus und Silas in Korinth wieder zu Paulus stoßen, kann dies durchaus wieder zutreffend sein. Anscheinend fuhr Timotheus nach Saloniki und dann über Beröa mit Silas zusammen wieder zu Paulus nach Korinth zurück.

Dies harmoniert durchaus mit der Darstellung des 1. Thessalonicherbriefes. 1 Thess 3,6 setzt nämlich voraus, dass Timotheus mit guten Nachrichten aus Saloniki zu Paulus zurückgekommen ist. Auf diese Nachrichten hin schreibt Paulus nun nach Saloniki.

Wenn wir die Nachrichten der Apostelgeschichte und die Hinweise des 1. Thessalonicherbriefs also zusammennehmen, dann verlangt zumindest der Abschnitt 1 Thess 3,6ff danach, in Korinth verfasst worden zu sein. Dort wäre Timotheus - nun gemeinsam mit Silas - ja wieder mit Paulus zusammengetroffen und hat gute Nachrichten von Saloniki mitgebracht.

4. Gab es noch einen anderen Brief?

Die Akropolis von Athen

Die Akropolis von Athen.

Foto-ButtonFoto: Jörg Sieger, 2014

Aber was war in Athen? Als Paulus mit Timotheus in Athen war und den Timotheus von dort aus nach Saloniki sandte, hat er ihm da nichts Schriftliches mit­ge­ge­ben? Hat er ihn einfach so, lediglich mit einer mündlichen Botschaft ver­sehen, nach Saloniki geschickt?

Paulus war doch in Un­ruhe. Die junge Ge­mein­de dort war in Be­dräng­nis durch Ver­folgungen und wie man aus dem 1. Thessalonicherbrief ent­nehmen kann, nun nicht mehr nur durch das jüdische, jetzt wohl auch durch das heidnische Umfeld (1 Thess 2,14). Paulus hatte zudem Hals über Kopf aufbrechen müssen und die Gemeinde war noch nicht gefestigt (vgl. 1 Thess 3,3). Es wäre eigentümlich, wenn Paulus dem Timotheus in dieser Situation kein schriftliches Zeichen mitgegeben hätte.

Wenn man diese Vermutung bejaht, dann stellt sich aber die Frage, ob dieses Schreiben jetzt einfach untergegangen ist. Oder haben sich etwa doch Spuren eines Briefes erhalten, den Paulus aus Athen nach Saloniki gesandt hatte.

5. Literarkritik

Wenn man daraufhin den ersten Thessalonicherbrief durchgeht, dann stößt man fast unwillkürlich auf 1 Thess 3,1-2. Es heißt dort:

"Darum hielten wir es nicht mehr aus und wollten lieber allein in Athen zurückbleiben und entsandten Timotheus, unseren Bruder und Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi, damit er euch stärke und ermuntere in eurem Glauben..." (1 Thess 3,1-2.)

Diese Stelle liest sich im heutigen Zusammenhang, wie wenn Paulus hier, seinen Brief in Korinth schreibend, auf die Zeit in Athen zurückblickt. Er denkt an die Sendung des Timotheus zurück, nachdem dieser nun schon wieder aus Saloniki zurückgekehrt war.

Aber auch wenn sich das im heutigen Textzusammenhang so darstellt, dann heißt das ja noch nicht, dass dies auch ursprünglich der Fall gewesen sein muss. Diese Verse könnten nämlich genauso gut, wenn nicht bedeutend besser, in einem Brief gestanden haben, den Paulus dem Timotheus in genau dieser Situation aus Athen mitgegeben hat und in dem er Timotheus der Gemeinde an seiner Stelle als Bruder und Mitarbeiter empfiehlt.

Diese Beobachtung bringt eine ganze Reihe von Forschern nun zur Vermutung, dass es tatsächlich einen Brief aus Athen gegeben hat. Und sie vermuten weiter, dass dieser Brief gar nicht verloren gegangen ist, sondern dass der Brief aus Athen mit dem Brief aus Korinth zusammen in späterer Zeit zu einem einzigen Schreiben zusammengefasst wurde.

a. Zwei Briefeingänge

Diese Vermutung wird von einer ganzen Reihe von Indizien gestärkt. So lesen wir in 1 Thess 1,2-7:

"Wir danken Gott allezeit für euch alle, wenn wir bei unseren Gebeten euer gedenken. Ohne Unterlass denken wir vor Gott, unserem Vater, an euer Tun im Glauben und an euer Mühen in der Liebe und an euer Harren in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus. Wir wissen, von Gott geliebte Brüder, um eure Erwählung. Denn unser Evangelium erging an euch nicht nur in Worten allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in voller Gewissheit. Ihr wisst ja, wie wir um euretwillen unter euch aufgetreten sind. Und ihr seid unsere und des Herrn Nachahmer geworden, indem ihr das Wort annahmt unter vieler Drangsal, mit der Freude, die vom Heiligen Geist ausgeht, so dass ihr ein Vorbild geworden seid für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaia." (1 Thess 1,2-7 [B].)

Dies ist der eigentliche Briefeingang, die Danksagung, so wie sie im heute vorliegenden Schreiben wiedergegeben ist. In 1 Thess 2,13-14 findet sich aber noch einmal ein Text, der eine Danksagung darstellt, der noch einmal das Thema vom "Nachahmer Gottes" - vom μιμηταί ["mimætaí"] - bringt und darüber hinaus auch noch den Fluss des ganzen Briefes stört. Es heißt dort:

"Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass, dass ihr das von uns gehörte Wort Gottes, das ihr empfingt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gotteswort, das auch in euch den Gläubigen wirkt. Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa in Christus bestehen. Habt doch auch ihr das gleiche von euren Landsleuten erlitten wie sie von den Juden." (1 Thess 2,13-14 [A].)

Hinter diesen Versen könnte sich also der Briefeingang eines ursprünglich selbständigen Schreibens verbergen.

b. Zwei Briefschlüsse

Aber damit nicht genug. Es gibt nämlich auch zwei mögliche Briefschlüsse im heutigen ersten Thessalonicherbrief. Einmal finden wir in 1 Thess 5,22-28 folgenden Text:

"Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch ganz und gar; und vollkommen, untadelig bleibe bewahrt euer Geist, eure Seele und euer Leib für die Ankunft des Herrn Jesus Christus. Getreu ist, der euch beruft; er wird es auch vollbringen. Brüder, betet für uns. Grüßt alle Brüder mit heiligem Kuss. Ich beschwöre euch beim Herrn, dass der Brief allen Brüdern vorgelesen werde. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch." (1 Thess 5,23-28 [B].)

Dies ist der Briefschluss des heutigen Textes. In 1 Thess 3,11-13 findet sich nun aber ein Text, der mit diesem Briefschluss auffällig übereinstimmt. Diese Übereinstimmung geht sogar soweit, dass der Abschnitt beides Mal mit den Worten Αὐτός ὁ θεὸς ["Autòs dè ho theòs"] - also "Er aber, der Gott (des Friedens)" - beginnt. Mit dieser Wendung leitet Paulus normalerweise immer zum Schluss über. Ich zitierte 1 Thess 3,11-13:

"Doch er selbst, unser Gott und Vater, und unser Herr Jesus bahne uns den Weg zu euch. Euch aber lasse der Herr wachsen und immer reicher werden an Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir sie zu euch haben. So festige er eure Herzen, auf dass sie untadelig seien in Heiligkeit vor unserem Gott und Vater bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen." (1 Thess 3,11-13 [A].)

Auch hier also der Segenswunsch und die Erwartung, dass die Mitglieder der Gemeinde bei der Parusie als ἀμέμπτος ["amémptos"], als "tadellos", erfunden werden.

c. Zwei Briefsituationen

Aber nicht nur solche formalen Auffälligkeiten lassen sich im heutigen Textzusammenhang ausmachen. Es lassen sich auch zwei verschiedene Briefsituationen feststellen.

In 1 Thess 3,6-10 wird, wie bereits erwähnt, vorausgesetzt, dass Timotheus mit guten Nachrichten aus Saloniki zurückgekommen ist. Ich zitiere:

"Soeben ist nun Timotheus von euch zu uns zurückgekehrt und hat uns frohe Kunde gebracht von eurem Glauben und eurer Liebe, dass ihr uns allezeit in gutem Andenken habt, dass ihr sehnlich verlangt, uns zu sehen, wie auch wir euch." (1 Thess 3,6 [B].)

Dies setzt - wie wir ebenfalls bereits gesehen haben - den Aufenthalt des Paulus in Korinth voraus.

1 Thess 2,17-3,4 spiegelt aber die Situation in Athen wieder:

"Wir waren aber, Brüder, eine Zeitlang durch Trennung von euch verwaist, dem Angesicht, nicht dem Herzen nach, und nun um so mehr bemüht, euer Angesicht zu sehen, in großem Verlangen. So wollten wir zu euch kommen - ich, Paulus -, ein-, zweimal, aber der Satan hinderte uns. [...] Darum hielten wir es nicht mehr aus und wollten lieber allein in Athen zurückbleiben und entsandten Timotheus, unseren Bruder und Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi, damit er euch stärke und ermuntere in eurem Glauben,..." (1 Thess 2,17-18. 3,1-2 [A].)

Natürlich könnte dieser Teil nun ein Rückblick auf die Situation in Athen von Korinth aus sein. Aber warum nimmt Paulus jetzt noch einmal Bezug darauf, da doch Timotheus inzwischen wieder zurück ist und er die guten Nachrichten doch schon bekommen hat?

Eine Lösung dieser Schwierigkeiten stellt die Hypothese dar, dass diese Passage aktuell in Athen geschrieben worden ist.

d. Fazit

Der Umstand der Doppelungen und inhaltliche Gründe, wie etwa die Tatsache, dass Timotheus in 1 Thess 3,2 besonders als Mitarbeiter vorgestellt wird, was nach einem ja schon erfolgten und erfolgreichen Aufenthalt in Saloniki gar nicht mehr nötig gewesen wäre, führen zur Teilungshypothese des ersten Thessalonicherbriefes.

6. Die Teilungshypothese

Wir können aus dem heute vorliegenden ersten Thessalonicherbrief demnach unter Berücksichtigung des oben gesagten zwei Briefe rekonstruieren.

a. 1 Thessalonicher A

Der erste, der ältere Brief sähe dann folgendermaßen aus:

0
Adresse (vom Redaktor gestrichen);
sie hat wahrscheinlich nur den Namen des Paulus enthalten.
1
Danksagung
2
Rückblick auf die Gemeindegründung
3
Sendung des Timotheus
4
Mahnungen allgemeiner Art
5
Briefschluss
0
Grüße (wurden vom Redaktor gestrichen)

Diese Rekonstruktion geht davon aus, dass bei der späteren Redaktion die Positionen 1 und 2 sowie 4 und 5 umgestellt wurden. Darauf wird noch einzugehen sein.

Der so rekonstruierte Brief ist aus der Situation in Athen heraus völlig plausibel.

Eine zentrale Frage im Blick auf diese Hypothese stellt die Person des Timotheus dar. War Timotheus der Gemeinde in Saloniki tatsächlich nicht bekannt. Erst dann würde 1 Thess A mit der Beglaubigung des Timotheus in 1 Thess 3,2 ja glaubhaft.

Die Apostelgeschichte schildert (Apg 17,10), dass Paulus und Silas über Nacht Saloniki verlassen mussten. Timotheus wird dabei in der Apostelgeschichte nicht erwähnt. Er findet erst in Beröa Erwähnung. Dies könnte zwei Gründe haben:

  • Timotheus war nicht so exponiert wie Silas und Paulus und hat deshalb in der Überlieferung dieser Szene keine Spuren hinterlassen.
  • Oder Timotheus war in Saloniki gar nicht dabei und stieß wirklich erst in Beröa zu Silas und Paulus dazu.

Beides ist möglich. Timotheus war erst auf dieser Missionsreise Gefährte des Paulus geworden. Er war der Sohn eines griechischen Vaters und einer jüdischen Mutter und wurde erst durch Paulus beschnitten, wie Apg 16,1-3 schildert. Seine Rolle scheint also noch keine bedeutende gewesen zu sein. Aber gerade er, als wenig exponierter und bekannter Paulusbegleiter war daher geeignet von Athen aus ungefährdet nach Saloniki zu gehen. Paulus selbst und vermutlich auch dem Silas war ein solcher Besuch durch ihre Bekanntheit verwehrt.

Unserer Chronologie zufolge müsste ein solcher Besuch des Timotheus in Saloniki in den Sommer 49 n. Chr. gefallen sein. ⋅2⋅

Die allgemeinen Mahnungen, die 1 Thess 4,1-8 enthält, gehen augenscheinlich auf keine konkreten Anfragen oder Nachrichten ein. Paulus hat zum Zeitpunkt dieses Timotheusbesuches in Saloniki ja keinerlei Rückmeldung über den Zustand der dortigen Gemeinde gehabt. Die Mahnungen in diesem postulierten Schreiben aus Athen bleiben daher allgemein und sprechen Schwierigkeiten an, die nach Pauli Erfahrung immer wieder in der Gründungsphase einer Gemeinde auftreten konnten. Sie würden sich demnach gut in die Situation eines hypothetischen Schreibens aus Athen einfügen.

b. 1 Thessalonicher B

Der zweite, jüngere Brief wäre dann folgendermaßen zu rekonstruieren:

0
Adresse (wahrscheinlich vom Redaktor etwas abgeändert)
1
Danksagung
2
Rückblick auf die Gemeindegründung
3
Rückkehr des Timotheus
4
konkrete Mahnungen
5
konkrete Mahnungen
6
konkrete Mahnungen
7
konkrete Mahnungen
8
Briefschluss mit
9
Grüßen
0
und Segenswunsch

Zunächst fällt auf, dass Paulus in 1 Thess 4,9-5,22 ganz konkrete Mahnungen ausspricht. Dies steht im Gegensatz zu 1 Thess 4,1-8. Offenbar kennt Paulus nun die Probleme der Gemeinde bedeutend genauer.

Die Brief-Situation dieses vermuteten Schreibens lässt sich demnach gut in der Zeit nach der Ankunft des Timotheus in Korinth ansiedeln.

Silas ist nach der Darstellung der Apostelgeschichte bei der Flucht des Paulus aus Beröa ja in Beröa geblieben. Dort könnte Timotheus nach seinem einige Wochen andauernden Besuch in Saloniki durchaus Halt gemacht haben. Vielleicht ist die Darstellung der Apostelgeschichte, die den Eindruck erweckt, dass nach der Flucht des Paulus Silas und Timotheus gemeinsam in Beröa waren, dadurch erst in Gang gekommen.

Timotheus und Silas gingen dann auf jeden Fall gemeinsam nach Korinth. Die Apostelgeschichte schildert das Zusammentreffen der beiden mit Paulus in dieser Stadt.

Paulus hatte in Athen offenbar keinen Erfolg mit seiner Mission gehabt. Dies hat sich in der Darstellung der Apostelgeschichte - etwa in der berühmten Areopagrede - ja deutlich niedergeschlagen. Daraufhin ist Paulus - vermutlich im Frühjahr 50 n. Chr. - nach Korinth gegangen, wo er also mit Silas und Timotheus zusammentreffen konnte.

Timotheus, der zwischenzeitlich in Saloniki gewesen war, brachte nun von dort gute Nachrichten mit.

Er brachte aber auch Fragen aus Saloniki mit, vor allem die Frage, was mit den Verstorbenen geschehen würde. Die Gemeinden der damaligen Zeit lebten schließlich in einer starken Naherwartung.

Diese Fragen veranlassten Paulus nun, den oben rekonstruierten Brief 1 Thess B zu schreiben. Dies wäre also frühestens im Frühjahr 50 n. Chr. der Fall gewesen.

In 1 Thess 1,7 sind bereits Christen in Achaia vorausgesetzt. Sie müssen zwischenzeitlich also missioniert worden sein. Vor dem Frühjahr 50 n. Chr. ist das nach unserer Chronologie kaum denkbar. ⋅3⋅

Wir hätten demnach zwischen 1 Thess A und 1 Thess B die Spanne von etwa einem Jahr.

Die Gemeinde scheint in der Zwischenzeit, seit ihrer Gründung, fest geblieben zu sein und hat anscheinend auch zu Paulus gehalten. Dies bringt 1 Thess 3,6 deutlich zum Ausdruck.

Wichtig ist der Aspekt, dass Paulus anscheinend unter dringlicher Naherwartung verkündet hatte. Gerade deshalb ist die Frage nach den mittlerweile Verstorbenen ein großes Problem für die Gemeinde in Saloniki geworden. Was passiert mit denen, die vor der Wiederkunft Christi, also vor der Parusie, verstorben sind.

Timotheus mag die Gemeinde diesbezüglich schon einmal beruhigt haben, Paulus drängte diese Problematik jedoch, noch einmal besonders darauf einzugehen. Bereits 1 Thess 1,10 lenkt er auf dieses Thema hin. In 1 Thess 4,13-18 versucht er die Gemeinde ausdrücklich zu beruhigen, bevor er in 1 Thess 5,1-11 die Problematik um die bereits Verstorbenen eigens abhandelt.

In der Adresse dieses Briefes werden Paulus, Silas und Timotheus als Absender genannt. Dies harmoniert wiederum mit der Darstellung der Apostelgeschichte und setzt als Briefsituation die Zeit in Korinth voraus.

c. Die Redaktion

Wenn die Geschichte so abgelaufen ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass beide Briefe in der Folge zu einem einzigen zusammengestellt worden sind. Dies kann verschiedene Gründe gehabt haben. Vielleicht ist es im Zusammenhang mit dem Austausch der Schreiben mit anderen Gemeinden passiert. Auch eine Zusammenstellung für den gottesdienstlichen Gebrauch ist durchaus denkbar.

Gerade letztere Vermutung wird noch einmal dadurch gestützt, dass die Zusammenstellung anscheinend nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt ist. Der Brief B gab anscheinend den Rahmen ab, während der Brief A in diesen Rahmen eingearbeitet worden ist.

Brief B (Korinth)
Brief A (Athen)
Teil I: Die Zeit in Saloniki
Teil II: Sendung und Rückkehr des Timotheus
Teil III: Mahnungen

Wenn wir diesen Redaktionsplan ansehen, dann ist es offensichtlich, dass es gar nicht schwer war, die beiden Schreiben zu einem einzigen zusammenzufassen. Der Redaktor musste die drei Teile nur nach sachlichen Gesichtspunkten zusammenstellen.

Lediglich zwei Veränderungen wären bei dieser Redaktion dann vorgenommen worden:

  • Die Danksagung (1 Thess 2,13-16 [A]) und der Rückblick auf die Gemeindegründung (1 Thess 2,1-12 [A]) im Brief A haben ihre Position getauscht. Dies geschah deswegen, damit die Gründungsnotizen von Brief A und B aneinandergefügt werden konnten. Es ging dem Redaktor schließlich um eine Zusammenstellung nach sachlichen Gesichtspunkten.
  • Ebenso scheinen die Mahnungen allgemeiner Art (1 Thess 4,1-8 [A]) mit dem Briefschluss (1 Thess 3,11-13 [A]) vertauscht worden zu sein, so dass eine harmonische Überleitung zum paränetischen dritten Teil gegeben war.

Mit dieser Annahme ließen sich die Probleme um den 1. Thessalonicherbrief ohne weiteres lösen. Neben den genannten Umstellungen müsste der Redaktor nur noch an folgenden zwei Stellen geringfügig in den Text eingegriffen haben:

  • In 1 Thess 2,13 müsste er ein καὶ διὰ τοῦτο ["kaì dià toûto"] - also die Floskel "Und darum ..." eingefügt haben, um die Danksagung anschließen zu können.
  • Und der Vers 1 Thess 3,5 müsste ebenfalls als redaktioneller Verbindungsvers betrachtet werden.

Vielleicht stammt auch 1 Thess 5,27, der vorletzte Vers, von diesem postulierten Redaktor. Dort heißt es nämlich:

"Ich beschwöre euch beim Herrn, diesen Brief allen Brüdern vorzulesen." (1 Thess 5,27.)

Hier könnte sich die Absicht des Redaktors verraten. Aus der Feder des Paulus scheint dieser Satz nicht zu stammen. Was soll diese Beschwörung, da Paulus doch weiß, dass sich die Gemeinde über den Brief freut? Verständlich wird dieser Vers, wenn ein Redaktor zwei Briefe zusammengefügt hat und den Gesamtbrief in dieser Form als Paulusbrief einer anderen Gemeinde überliefern will.

7. Die Einheitshypothese

Dies wäre nun also der Versuch einer Teilungshypothese des 1. Thessalonicherbriefs. Mit ihr lassen sich die meisten Schwierigkeiten im Text recht elegant lösen. Wem diese Annahme jedoch zu abenteuerlich ist, der muss weiterhin von der klassischen Einheitshypothese ausgehen.

Der 1. Thessalonicherbrief kann selbstverständlich auch als ein Ganzes aufgefasst werden. Er wäre dann im Frühjahr 50 n. Chr. in Korinth geschrieben, nachdem Timotheus aus Saloniki zurückgekehrt war und Paulus mit guten Nachrichten aus der dortigen Gemeinde versorgt hat. Der Brief selbst wäre dann aber etwas sprunghaft und bliebe mit einigen Spannungen behaftet, die nur schwer zu lösen sind. Seine Brüche müssten dann mit dem Hinweis erklärt werden, dass er nicht in einem Zug geschrieben worden sei und Paulus am Ende sich wohl nicht mehr ganz im Klaren darüber war, was er am Anfang geschrieben bzw. diktiert habe.

Die Lösung mittels der Teilungshypothese scheint hier aber der sauberere Weg zu sein.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button

2 Lüdemann behauptet jedoch, dass der 1. Thessalonicherbrief auf die 40er Jahre datiert werden müsse: Der 1. Thessalonicherbrief spräche die später so bedeutende Gesetzesfrage kaum an und er handele ganz anders über das Schicksal der Verstorbenen als dies der 1. Korintherbrief tut. Nach Lüdemann wäre der kurze Zeitraum, den die meisten Forscher zwischen dem 1. Thessalonicherbrief und dem 1. Korintherbrief ansetzen, nicht ausreichend, um diese Entwicklung zu erklären. Zur Anmerkung Button

3 Dies auch gegen die Frühdatierung durch Lüdemann. Zur Anmerkung Button