Die Bibel

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Weiter-ButtonZurück-Button Verfasserfrage, Abfassungszeit und Abfassungsort des Lukas-Evangeliums ⋅1⋅

1. Die Verfasserfrage

Wer hat das Evangelium des Lukas nun geschrieben und wann hat dieser Autor gearbeitet?

Der Prolog oder auch das Proömium des Evangeliums (Lk 1,1-4) kann uns im Blick auf die Zeit, in der der Verfasser tätig war, schon eine Hilfestellung geben. Wenn der Autor sagt, dass es schon "viele" Schriften gibt und auf die Überlieferung derer geschaut werden muss, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind, dann heißt das, dass er ja schon nicht mehr zu diesen Augenzeugen gehört. Wir haben es hier also auf jeden Fall mit einem Christen der zweiten oder dritten Generation zu tun. Die Diener und die Augenzeugen, also die Apostel, wären dann die erste Generation, die Schriften könnte man in einer zweiten Generation verwurzelt sehen und die dritte Generation wäre dann die, in der unser Verfasser zu suchen ist.

Stilistische Gründe und die theologischen Linien des Werkes sind ausschlaggebend dafür, dass man hier einen Heidenchristen am Werk vermuten muss. Und zwar einen Heidenchristen, der für Heidenchristen geschrieben hat.

  • Immer wieder fällt im Zusammenhang des Evangeliums nämlich auf, dass der Verfasser anscheinend keine Kenntnis von der Geographie Palästinas besitzt.
  • Auch vermeidet er - wie bereits erwähnt - alle semitischen Begriffe außer dem Wort "Amen".
  • Die charakteristischen Überlieferungen über den Kampf Jesu gegen das pharisäische Gesetzesverständnis fehlen im Lukas-Evangelium völlig.
    • Es fehlen beispielsweise die Antithesen der Bergpredigt, in denen ja auf die Überlieferung der Alten Bezug genommen wurde (Mt 5,21-48),
    • es fehlen die Worte gegen falsche kultische Frömmigkeit (Mt 6,1-8. 16-18)
    • und es fehlt die Auseinandersetzung um die Frage von rein und unrein (Mk 7,1-23).
  • Palästinische Züge, die uns in anderen Evangelien begegnen, werden bei Lukas in hellenistische Züge abgeändert.
    • So wird in Lk 5,19 davon gesprochen, dass die Männer, die den Gelähmten zu Jesus bringen möchten, die Ziegel des Daches abdecken. Das setzt eine andere Bauweise voraus, als etwa das Markus-Evangelium. In der Markus-Paralle heißt es nämlich - wörtlich übersetzt -, dass die Männer das Dach aufgruben (Mk 2,4). Markus hat offensichtlich - ganz anders als Lukas - ein Haus in Palästina vor Augen.

Inwieweit die Äußerung von Eusebius von Caesarea und des Kanon Muratoris stimmen, dass Lukas Arzt gewesen sei und seine Schrift aus Antiochia stammen würde, konnte bisher wissenschaftlich nicht untermauert werden.

Auch die Überlieferung, dass der Verfasser des Evangeliums ein Paulusschüler war, ist ungewiss, eigentlich sogar weniger wahrscheinlich. Paulinische Theologumena, zum Beispiel das Sprechen vom Sühnetod im Blick auf den Tod Jesu, fehlen bei Lukas nämlich völlig.

Der Name Lukas wird aber durch die Tradition, dass der Verfasser des Evangeliums ein Paulusschüler gewesen sei, erst ins Spiel gebracht. Man wusste, dass das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte vom gleichen Verfasser stammen. Nun reicht die Apostelgeschichte in ihrem Bericht bis kurz vor die Hinrichtung des Paulus in Rom. Im 2. Timotheusbrief, der in der Tradition als kurz vor dem Tod des Paulus geschrieben galt, lässt der Verfasser den Paulus aber sagen:

"Nur Lukas ist noch bei mir." (2 Tim 4,11.)

Aus dieser Stelle haben die Kirchenväter nun geschlossen: wenn der Verfasser des Doppelwerkes ein Paulusschüler ist, sein Bericht bis kurz vor den Tod des Paulus reicht und Paulus am Ende nur noch den Lukas bei sich hatte, dann kann der Verfasser der Apostelgeschichte und des Evangeliums ja auch nur dieser Lukas gewesen sein.

Festzuhalten bleibt für uns demnach, dass wir über die Gestalt des Verfassers kaum Näheres wissen. Diese Auskunft soll vorerst genügen. Im Zusammenhang mit der Apostelgeschichte werden wir noch einmal auf ihn zurückkommen

2. Die Abfassungszeit

Versuchen wir aber über die Zeit der Abfassung noch etwas Genaueres zu erheben.

Man hat immer wieder die Behauptung aufgestellt, das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte seien zu Anfang der 60er Jahre, also noch vor dem Ende des Prozesses des Paulus, geschrieben worden. ⋅2⋅ Diese Theorie hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Apostelgeschichte bereits vor dem Tod des Paulus endet und über Pauli Hinrichtung nicht mehr berichtet. Das aber hat andere Gründe, wie wir bei der Besprechung der Apostelgeschichte sehen werden.

Ich habe auch schon darauf hingewiesen, dass eine Abfassung in den 60er Jahren des ersten Jahrhunderts mit Lk 1,1ff kaum vereinbar wäre. Die Eröffnung des Evangeliums mit ihrem Hinweis auf die vielen Schriften, die bereits vorliegen, und mit der Erwähnung der Tradition, die von den Augenzeugen in Gang gesetzt worden ist, widerspricht einer solch frühen Datierung.

Entscheidend gegen eine solch frühe Ansetzung der Evangelienabfassung spricht aber, dass das Lukas-Evangelium, wie auch der Matthäus-Text bereits auf den Untergang Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. zurückblickt.

Wenn Jesus in Lk 13,34-35 Jerusalem das Gericht ansagt, dann könnte man dies ja noch tatsächlich als historisch betrachten. Jesus hat eben das Gericht über die Stadt vorhergesagt. Das heißt ja noch nicht, dass es schon gekommen sein muss.

Lk 21,20. 24 formt nun aber die Weissagung vom Gräuel der Verwüstung aus Mk 13,14ff dergestalt um, dass sie zu einer regelrechten Drohweissagung über Jerusalem wird, und zwar eine Weissagung, die augenscheinlich ex eventu, also nach deren Eintreten, gestaltet ist. Die Ereignisse des Jahres 70 n. Chr. mit der Belagerung und Zerstörung der Stadt durch die Römer, mit der Niedermetzelung zahlloser Juden und der Fortführung der Überlebenden in heidnische Gefangenschaft sind augenscheinlich vorausgesetzt.

Das gleiche gilt auch für die Ausmalung in Lk 19,43-44: der Wall, den die Feinde um die Stadt aufwerfen, die Belagerung und Einschließung, die Auslieferung der eroberten Stadt und ihrer Einwohner an die Sieger und die völlige Zerstörung der Stadt, dies alles entspricht genau den Schilderungen, die zeitgenössische Berichte von dem Vorgehen des Titus gegen Jerusalem geben.

Das Lukas-Evangelium ist also auf alle Fälle nach 70 n. Chr. geschrieben worden.

Wie weit die Datierung aber hinabzugehen hat, kann vom Lukas-Evangelium aus nicht eindeutig entschieden werden. So hat es verschiedentlich Versuche gegeben - wie etwa den von O'Neill -, die Entstehung des Lukas-Evangelium erst in den Jahren 115-135 n. Chr. anzusetzen.

Dies geht allerdings viel zu weit. Die Apostelgeschichte liefert uns ja gleichsam einen terminus ad quem. In Apg 1,1 wird ja auf das bereits fertiggestellte Lukas-Evangelium zurückgeblickt. Dieses wird ja als πρῶτος λόγος ["protos lógos"], als erste Schrift bezeichnet. ⋅3⋅ Da der Verfasser der Apostelgeschichte die gesammelten Paulus-Briefe aber noch nicht kennt, sie mit keinem Wort erwähnt und auch nirgendwo zitiert, muss die Apostelgeschichte noch vor der Herausgabe der Paulus-Briefe fertiggestellt worden sein. Die Geschichte des Paulus zu schreiben und die in der Theologie dann so wichtig gewordenen Briefe überhaupt nicht zu erwähnen, das wäre danach eigentlich undenkbar gewesen. Das verweist uns also in eine Zeit sicher vor 100 n. Chr.

Deshalb müssen wir - was das Evangelium angeht - mit einer Abfassung wohl zwischen 70 und 90 n. Chr. rechnen.

3. Der Abfassungsort

Wo dies geschehen ist, wo der Verfasser des Lukas-Evangeliums gearbeitet hat, bleibt im Grunde unklar. Über den Abfassungsort liegt keine alte Überlieferung vor. Einige vermuten Caesarea (Michel, Klijn), andere Achaia (T. W. Manson) und wieder andere die Dekapolis (Koh). Vor allem Rom wird als Entstehungsort immer wieder genannt (Michaelis, Geldenhuys, Hastings, u. a.).

Für keine dieser Vermutungen lässt sich aber ein wirklich überzeugendes Argument beibringen. So können wir eigentlich nur sicher sagen, dass das Lukas-Evangelium außerhalb Palästinas geschrieben wurde. Mit allen weitergehenden Auskünften müssen wir sehr vorsichtig sein.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Wo nicht anders angegeben folge ich meinem Lehrer Prof. Dr. Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament - I: "Von Jesus zu den Evangelien", Vorlesungsmitschrift Sommersemester 1980. Zur Anmerkung Button

2 So z. B. Harnack, Höpel-Gut, Meinertz, Michaelis, Schäfer, Albertz, Cerfaux-Cambier, Sahlin, Koh, Hastings, Geldenhuys.
(Vgl.: Paul Feine, Johannes Behm, Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament (Heidelberg 13. Auflage 1964) 93-94.) Zur Anmerkung Button

3 Die Annahme, die Apostelgeschichte sei vor Protolukas geschrieben, das Lukas dann nach der Apostelgeschichte (Koh, C. S. C. Williams, BNTC zu Apg, 12f.) fällt mit der Hypothese eines Protolukas; Russel hat zwar gezeigt, dass für das Lukas, aber nicht für die Apostelgeschichte ein eindeutiges Zeugnis für die Abfassung nach 70 vorhanden ist, hat aber keine Gründe für die Abfassung der Apostelgeschichte vor dem Lukas anführen können.
(Vgl.: Paul Feine, Johannes Behm, Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament (Heidelberg 13. Auflage 1964) 93-94.) Zur Anmerkung Button