Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die jüngeren Deuteropaulinen: die Pastoralbriefe ⋅1⋅
- 1. Die Pastoralbriefe im Allgemeinen
- a. Die Frage der Echtheit
- b. Der Name "Pastoralbriefe"
- c. Wesentliche Merkmale der Pastoralbriefe
- d. Ziel der Pastoralbriefe
- e. Das veränderte Paulusbild
- f. Der Autor der Pastoralbriefe
- 2. Der erste Timotheusbrief
- 3. Der zweite Timotheusbrief
- 4. Der Titusbrief
- 5. Die 'Kirchenordnungshypothese'
Nach diesen sogenannten älteren Deuteropaulinen müssen wir nun auf die jüngeren Deuteropaulinen zu sprechen kommen. Man nennt diese Schriften auch die "Pastoralbriefe".
1. Die Pastoralbriefe im Allgemeinen
a. Die Frage der Echtheit
Dabei war es katholischerseits, wie auch bei den älteren Deuteropaulinen, bis vor wenigen Jahrzehnten kaum möglich, die Autorschaft des Paulus für diese Schriften zu bezweifeln. Noch im Jahre 1913 entschied die päpstliche Bibelkommission:
"Die Tradition beweist die Echtheit der Briefe. Die Fragmentenhypothese (nur einzelne Fragmente der Briefe seien echt, das Ganze jedoch nicht) sowie Einwendungen wegen der Eigenart des Stils, des gnostischen Charakters der bekämpften Irrlehren und der geschilderten hierarchischen Verhältnisse und anderes können die Tradition nicht erschüttern. Die Abfassungszeit liegt zwischen dem Ende der ersten römischen Gefangenschaft und dem Tode Pauli."
In dieser Frage ist nun nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch in der kirchlichen Auffassung eine Wandlung eingetreten. Die jüngeren Kommentare, besonders der von Norbert Brox und F. J. Schierse setzen demnach auch voraus, dass Paulus unter keinen Umständen der Verfasser dieser Schreiben sein kann.
b. Der Name "Pastoralbriefe"
Pastoralbriefe nennt man diese Schreiben nun, weil sie keine Gemeinde, sondern einen Gemeindeleiter als Adressaten haben. Es sind gleichsam Schreiben eines Hirten an den Hirten einer Gemeinde, der auch in seiner kirchlichen Hirtenfunktion angesprochen ist. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich deshalb der Name Pastoralbriefe eingebürgert.
c. Wesentliche Merkmale der Pastoralbriefe
Dass diese Schreiben an eine einzelne Person und nicht mehr an ganze Gemeinden gerichtet sind, bringt in Form, Inhalt und Redeweise einschneidende Unterschiede zu den echten Paulusbriefen mit sich.
In diesen Briefen handelt es sich nicht mehr um die Belehrung einer Gemeinde in Briefform, gleichsam als Fortsetzung der mündlichen Verkündigung. Hier werden die kirchlichen Autoritäten, die für den Bestand und das Blühen der Gemeinden die Verantwortung tragen, von demjenigen angeschrieben, der zumindest fiktiv über ihnen steht. Der Absender der Schreiben weiß sich gleichsam für die Amtsträger und deren Bewährung verantwortlich.
Aus all dem kann man entnehmen, dass sich hier bereits ein starkes hierarchisches Gefälle zeigt. Es gibt bereits einen ausgesprochenen Gemeindeleiter, einen Episkopen, es gibt Presbyter und Diakone.
Natürlich ist auch die Sprache eine andere als in den älteren Gemeindebriefen, dem Philemonbrief als Privatbrief oder einem Mahnschreiben wie dem Hebräerbrief.
Als auffälligste Akzente treten drei Merkmale stärker hervor:
- die Briefe tragen allesamt eine direktive Note,
- sie mühen sich um die Sicherung des Bestandes des Evangeliums und dessen unverfälschte Tradition und Weitergabe
- und sie haben gleichsam einen "offizielleren" Charakter. Die Adressaten werden schließlich in ihrer speziellen Funktion und Zuständigkeit angesprochen.
Die Gemeinden an sich sind nur indirekt angesprochen. Eine Anordnung, die die ganze Gemeinde betrifft, wird nicht mehr dieser selbst mitgeteilt. Als Mittler wird nun der Gemeindeleiter gleichsam dazwischengeschaltet. Er erhält die Direktive für die amtliche Belehrung, die er als Gemeindeleiter dann in den Gemeinden vorzutragen hat.
d. Ziel der Pastoralbriefe
Mittels dieser Schreiben sollte also vor allem auf die Praxis der Gemeindeleitung in nachapostolischer Zeit eingewirkt werden. Die christlichen Gemeinden waren zur damaligen Zeit ja mannigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Es gab den Glaubensabfall und es gab sich ausbreitende, vor allem gnostische Häresien. In dieser Zeit brauchte die Gemeindeordnung eine ganz andere Festigkeit, als zur Zeit der Apostel und der ersten Begeisterung.
Alles, was nun zum weiteren Aufbau und Bestand der Kirche und der Gemeinden notwendig war, wurde demnach in der Form von Mahnungen, gleichsam Instruktionen an die Gemeindeleiter aufgeschrieben. Das ganze wurde in die Form eines Paulusbriefes gekleidet. Dadurch wurden solche Anweisungen bewusst mit der Autorität des Apostels ausgestattet.
e. Das veränderte Paulusbild
In der nachapostolischen Zeit berief man sich mit Vorliebe auf die apostolische Autorität. Dies taten die Vertreter der Irrlehren und dies taten in diesen Briefen auch die Vertreter der Großkirche. So sagt Norbert Brox:
"Die Autorität des Apostels war in der Kirche des oder der Verfasser ganz offensichtlich die maßgebliche Größe. Als pseudonyme Schreiben sind uns diese Briefe das denkbar dichteste Dokument lebendiger apostolischer, d. h. paulinischer Tradition um die Wende zum zweiten Jahrhundert. Was in der jetzigen Situation notwendig zu sagen ist, wird als Wort des Paulus abgefasst, er ist als Autor angeführt, nennt sich selbst, spricht über sich selbst in seiner kirchlichen Rolle, gibt als Apostel Anweisungen, ist sogar der Apostel schlechthin, denn von anderen Aposteln außer ihm ist nirgends die Rede. Die Briefe wollen obendrein ein Stück Biographie des Paulus darstellen; die Art und Weise wie Paulus sich hier selbst zum Thema macht in der Form der Paulusanamnesen (= Erinnerungen), zeigt im Vergleich mit den entsprechenden Passagen der sicher echten Briefe das veränderte Paulusbild."
Eine solche Paulusanamnese haben wir etwa in 1 Tim 1,12-17 vorliegen. Es heißt dort:
"Ich danke dem, der mir Kraft gegeben hat: Christus Jesus, unserem Herrn. Er hat mich für treu gehalten und in seinen Dienst genommen, obwohl ich ihn früher lästerte, verfolgte und verhöhnte. Aber ich habe Erbarmen gefunden, denn ich wusste nicht, was ich tat. So übergroß war die Gnade unseres Herrn, die mir in Christus Jesus den Glauben und die Liebe schenkte. Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als erstem seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen. Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen." (1 Tim 1,12-17.)
In diesem fiktiven Selbstbericht wird Paulus als Verfolger der urchristlichen Gemeinde vorgestellt, genauso, wie dies auch im Galaterbrief oder im Philipperbrief geschieht. Aber hier geht es nicht mehr um das historische Geschehen. Paulus wird in dieser Passage gleichsam zum paränetischen Bekehrungsvorbild gesteigert.
Der Zusammenhang, den wir aus 1 Kor 15 kennen, wird hier ganz allgemein formuliert und damit ein Paulusbild entworfen, das Paulus zum ersten Bekehrten und Vorbild aller Bekehrung stilisiert. Die Beschreibung will gleichsam testamentarischen Charakter haben.
Aus all dem wird eigentlich schon beim näheren Hinsehen klar, dass Paulus hier nicht selbst spricht. Es wird über ihn mit seinen Worten als Typos und Vorbild des Bekehrten gehandelt. Hier wird geschrieben, wie sich eine spätere Epoche den Paulus vorgestellt hat. Die in den echten Paulusbriefen enthaltenen Nachrichten werden hierzu verwendet. Neue Informationen enthalten diese Zeilen nicht.
Die Pastoralbriefe stellen den Apostel somit als absolute und alleinige Autorität der Verkündigung und der kirchlichen Ordnung vor. Paulus wird zum Beispiel für vorbildliche Bewährung in seinem Amt, im Dienst an der Lehre und an der Kirche. Zuletzt wird Paulus in 2 Tim 4,6-8 sogar - fast legendenhaft - als Märtyrer und Heiliger vorgestellt; Paulus selbst hätte so nie über sich geurteilt. Man muss hier nur die Notiz in 1 Kor 4,4-5 ⋅2⋅ vergleichen. Paulus hätte wohl kaum im Stil der Märtyrerlegende über sich selbst geschrieben!
f. Der Autor der Pastoralbriefe
Der Autor dieser Schreiben ist uns nicht bekannt. Vermutlich war er selbst Amtsträger und wollte den Gemeindevorstehern mit allem Nachdruck seine Instruktionen erteilen. Er kleidet seine Weisung in die Form eines Paulusbriefes, weil für ihn von diesem Paulus her allein rechte Lehre, Ordnung und sachgemäße Weisung kommen.
Der Verfasser verfährt dabei ähnlich wie es die Autoren des Kolosserbriefes und des Epheserbriefes getan haben. Am Ende werden Personalnotizen mit recht konkreten Anweisungen angefügt, die den fiktiven Charakter zu durchschauen schwer machen. Dabei handelt es sich aber, wie bereits mehrfach erwähnt, um ein übliches literarisches Mittel der antiken pseudonymen Briefliteratur.
2. Der erste Timotheusbrief
Schauen wir nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen die Pastoralbriefe im einzelnen an. Der erste Timotheusbrief beschäftigt sich vor allem mit den Aufgaben der Gemeindeleitung und der Gemeindeordnung. Timotheus, der Repräsentant und Amtsträger ist, soll wissen, wie man sich im Haus Gottes, sprich der Kirche (1 Tim 3,15), verhalten soll. Aus den Anweisungen wird klar, dass die Gemeinden schon in der 2. und 3. Generation leben und sich klare ständische Ordnungen und entsprechende Ämterverfassungen herausgebildet haben.
Die Verhaltensregeln, die dem "Obergemeindeleiter" gegeben werden, betreffen:
Im 1 Timotheusbrief finden sich darüber hinaus eine Reihen von Haustafeln. Auf sie bin ich ja im Blick auf die vorpaulinischen Tradition bereits zu sprechen gekommen. Haustafeln enthalten nun:
Im einzelnen gliedert sich der Brief nun wie folgt: ⋅3⋅
3. Der zweite Timotheusbrief
Während nun der 1. Timotheusbrief also Verhaltensregeln gegenüber einzelnen Gruppen in der Gemeinde gab, spricht der 2. Timotheusbrief den Amtsträger direkt an. Er appelliert an sein Pflichtbewusstsein, seine Glaubenstreue und seine Frömmigkeit. Davon hängt nach Auskunft des 2. Timotheusbriefes das Schicksal der Verkündigung des Evangeliums ab (2 Tim 3,1).
Schwerpunkte der Gemeindeleiterermahnungen des 2. Timotheusbriefes sind nun:
- Aufruf zu Bekennermut, Leidensbereitschaft nach dem Vorbild des Dulders und Märtyrers Paulus (2 Tim 1,6-12; 2 Tim 2,1-13; 2 Tim 3,10-12; 2 Tim 4,6-8).
- Festhalten an der paulinischen, d. h. apostolischen Überlieferung gegenüber der Irrlehre (2 Tim 1,3-5; 2 Tim 1,12f; 2 Tim 2,14-19; 2 Tim 2,23-26; 2 Tim 3,1-9; 2 Tim 3,13; 2 Tim 3,17).
- Vorbildliche Lebensführung und Pflichterfüllung (2 Tim 2,19-22; 2 Tim 4,1-5).
Und hier nun abschließend wieder ein Blick auf den Inhalt und Aufbau des 2. Timotheusbriefes: ⋅4⋅
4. Der Titusbrief
Im Titusbrief werden nun den Amtsträgern weitere Handlungsanweisungen gegeben und zwar im Blick auf die Abgrenzung von einer Irrlehre. Dabei werden die Grundsätze und Inhalte rechtgläubiger Verkündigung, was hier gesunde Lehre genannt wird, den Amtsträgern an die Hand gegeben.
Zu Inhalt und Gliederung des Titusbriefes lässt sich nun überblickmäßig folgendes sagen: ⋅5⋅
5. Die 'Kirchenordnungshypothese'
Aus dieser Übersicht lässt sich bereits entnehmen, dass diese drei Briefe drei Komplexe behandeln, die mit der kirchlichen Ordnung und Unterweisung in einer durch Häresie bedrohten Zeit zusammenhängen. So als wollten sie den jeweiligen Amtsträgern die Verhaltensweisen in diesen Situationen an die Hand geben. Man hat von daher auch vermutet, dass die Pastoralbriefe nichts anderes sind, als eine in Briefform eingekleidete Kirchenordnung vom Ende des 1. Jahrhunderts n Chr.
In den paulinischen Gemeinden habe sich so etwas wie eine Ordnung des kirchlichen Lebens herausgebildet, die der Verfasser der Pastoralbriefe hier in schriftlicher Form als Vermächtnis des Paulus niedergelegt hat. Er habe demnach im 1. Timotheusbrief die Verhaltensregeln, die Pflichten der Amtsträger im 2. Timotheusbrief und die Grundsätze und Inhalte der Verkündigung im Titusbrief zusammengestellt.
Diese Hypothese ist recht ansprechend, sie ist - nach Rudolf Pesch - jedoch nicht leicht zu verifizieren.
Anmerkungen