Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Was will diese Einführung
In den vergangenen beiden Abschnitten haben wir im Rahmen der Einführung in das Alte Testament die einzelnen Schriften des alttestamentlichen Kanons gleichsam mit dem Seziermesser auseinandergenommen. Wir haben gefragt,
- wann die einzelnen Texte entstanden sind,
- welchen geschichtlichen Hintergrund sie haben,
- welchen literarischen Gattungen sie angehören,
- was für Leute welche Texte verschrifteten
- und wie viele verschiedene Hände beim Entstehen eines Buch jeweils am Werk gewesen sein mögen.
Das war - denke ich - für das Verständnis der einzelnen Bücher und ihre literarische Einordnung auch äußerst wichtig. Ich kann einen Text nur dann richtig erfassen und einordnen, wenn ich um die Umstände seiner Entstehung und den zeitgeschichtlichen Hintergrund zumindest annähernd weiß.
Auf der anderen Seite gerieten wir dabei allerdings nicht selten in die Gefahr, vom ein oder anderen Buch kaum mehr als einen Haufen Papierschnipsel übrigzulassen. Wir haben den Pentateuch beispielsweise - also die fünf ersten Bücher der Bibel - in so viele Stränge und Schichten zerteilt, sind so vielen Theorien und Erklärungsversuchen nachgegangen, dass am Ende ja durchaus die Frage berechtigt ist, was jetzt von diesen biblischen Büchern für uns letztendlich wirklich noch übrigbleibt.
1. Die Fragestellung
Was soll ich jetzt mit diesen Texten anfangen? Was macht nun ihre Bedeutung für mich aus? Was ist die Botschaft dieser biblischen Bücher? Solchen Fragen wollen wir im Verlauf dieser Einführung nachgehen.
Ich habe ja bereits bei der Einführung in das Alte Testament regelmäßig auf die theologischen Intentionen der einzelnen Schriften hinzuweisen versucht. Dies soll nun gleichsam in einer Synthese geschehen. Wir wollen fragen, welche theologische Absicht hinter den biblischen Schriften steht, welche Aussagen über Gott gemacht werden und was über das Gottesverhältnis der Menschen in diesen Büchern gesagt ist. Und wir wollen die Antworten darauf jetzt suchen, indem wir die Schriften des Alten Testamentes nun als Ganzes zusammenschauen.
2. Die Vorgehensweise
Im Grunde ist das nun ja die klassischste Betrachtungsweise der Bibel überhaupt. In der Vergangenheit hat man die Schrift ja fast nur auf diese Art betrachtet. Man schaute zu einem Thema in den verschiedensten Büchern nach, was sich zu dieser Thematik jeweils dort findet. Und diese Aussagen stellte man dann systematisch zusammen. Der aktuelle römische Katechismus bietet für solch eine Art der Schriftauslegung an vielen Stellen ein modernes Beispiel.
Es geht also im Grunde um eine uralte Betrachtungsweise der Schrift. Wir fragen auf ganz klassische Art und Weise nach der Theologie des Alten Testamentes.
3. Eine Theologie des Alten Testamentes?
Aber ist diese Frage so überhaupt noch erlaubt? Darf man denn, nach all dem, was wir in den vorigen beiden Abschnitten überlegt haben, überhaupt noch nach einer Theologie des Alten Testamentes fragen? Wir würden dabei ja ganz stillschweigend wieder so etwas wie eine Einheit dieser Vielzahl von äußerst vielschichtigen Büchern voraussetzen.
Die Schrift selbst macht aber doch schon deutlich, dass ihre Bücher aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Verfassern herrühren. Und selbst da, wo man ein Buch genau einem Verfasser und einer Zeit zuordnen zu können glaubte, konnten wir unterschiedliche Bearbeitungsschichten und Redaktionen aus den verschiedensten Zeiten feststellen. Nachdem wir die Bibel also als ein ungeheuer komplexes Gebilde zu beschreiben gelernt haben, kann man diese Ansammlung von Schriften dann überhaupt noch als einheitliches Buch behandeln und so etwas wie eine theologische Intention der Bibel, Grundaussagen der Schrift als Ganzes konstatieren?
a. Gefahren dieser Betrachtungsweise
So wie man es klassischerweise getan hat, kann man es wohl sicher nicht mehr. Wenn man einfach die Bibel nimmt und die einzelnen Aussagen zu bestimmten Themen herauspickt, also ganz außer Acht lässt, was wir in der Einführung erarbeitet haben, dann läuft man schließlich immer wieder Gefahr, zu den abstrusesten Ergebnissen zu gelangen.
b. Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart
Beispiele dafür gibt es genügende.
- In der Vergangenheit brauchen wir - wenn wir die Spitze des Eisberges fassen wollen - nur den Fall Galilei zu nennen.
- In der Gegenwart sind es vor allem Sekten oder aber auch fundamentalistische bzw. evangelikale Kreise, die hier anzuführen wären. Hier wird ja oftmals ganz bewusst versucht, durch ein Nebeneinanderstellen von Texten, die aus dem Zusammenhang herausgerissen worden sind, eine bestimmte Aussage zu untermauern.
- Und manchesmal sitzt auch das ein oder andere theologische bzw. populär-theologische Werk solchen Gefahren auf. Das Sprechen vom alttestamentlichen Rachegott beispielsweise konnte eigentlich nur auf diese Art und Weise entstehen. Zu solch einer Schlussfolgerung kann man nur kommen, wenn man unreflektiert einzelne Aussagen - nicht aus dem heutigen Textzusammenhang - wohl aber aus dem historisch-literarischen Zusammenhang herausbricht.
c. Lev 24,20 als Beispiel
Ich möchte nur ein Beispiel für solch ein Missverstehen der Schrift anführen. Ich nenne hier die bekannte Stelle in Lev 24,20:
"Wer seinem Nächsten einen Leibschaden zufügt, dem soll man tun, wie er getan hat: Bruch um Bruch, Aug um Auge, Zahn um Zahn! Derselbe Leibschaden, den er einem andern zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden." (Lev 24,19-20.)
(1) Eine Vergeltungsregel?
Aus dem heutigen Textzusammenhang muss ich natürlich herauslesen, dass hier angeordnet wird, eine Verletzung durch die entsprechende Verletzung am Täter zu ahnden. Und ich habe dabei nicht einmal einen Fehler gemacht. So stellt sich das im heutigen Textzusammenhang durchaus dar.
Nicht aber, wenn ich den historischen Zusammenhang mitberücksichtige. Lev 24,20 klingt nur dann grausam, wenn ich nicht berücksichtige, dass dieser Text ursprünglich eben keine Anordnung einer Strafe sondern vielmehr die Verhinderung einer übertriebenen Bestrafung gewesen ist.
(2) Die Praxis der Blutrache als Hintergrund
In einer Umwelt, in der das Strafempfinden der Menschen vor allem durch die Blutrache geprägt war, war es durchaus keine Seltenheit, dass jemand, der beispielsweise in betrunkenem Zustand jemandem ein Auge ausgestochen hat, von den Verwandten des Verwundeten verfolgt und im Sinne der Blutrache getötet wurde.
Genau dagegen aber wendet sich diese Anordnung. Nein, nicht Leben für Auge. Das Buch Levitikus sagt ausdrücklich: nur derselbe Leibschaden, den jemand einem anderen zugefügt hat, soll dementsprechend einem Täter auch zugefügt werden. Es geht hier also nicht um die Anordnung einer grausamen Vergeltung, es geht vielmehr um die Eindämmung und Regelung einer ungeordneten und unkontrollierbaren Rachevorstellung.
Dass unser Rechtsempfinden und vor allem unser Strafempfinden mittlerweile ein anderes geworden ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Anordnung von Lev 24,20 kann ich, wenn ich redlich sein möchte, nicht mit dem Maß unserer Zeit messen.
(3) Bedeutung für unsere Zeit
Wenn ich die Bedeutung dieses Textes für unsere Zeit erfassen möchte, dann muss ich vielmehr fragen: Wenn er damals die Intention verfolgte, unkontrollierte Vergeltungsvorstellungen einzudämmen, welche Intention hat er dann heute. Was wäre dann die Parallele für unsere heutige Zeit.
Und ich denke, dass sich hier einige Parallelen finden ließen. Ich brauche nur einmal von der Ebene der Strafgesetzgebung weggehen, ich brauche diesen Text nur etwa in den großen Zusammenhang der Vergebungsbereitschaft hineinstellen, dann eröffnen sich hier eine ganze Reihe von Übertragungsmöglichkeiten.
Diesen Gedanken weiterzudenken, würde uns jetzt allerdings zu weit führen. Lev 24,20 zu interpretieren, ist ja jetzt nicht unsere Aufgabe.
d. Unsere Vorgehensweise
Die Stelle soll zunächst einmal ja lediglich als Beispiel dafür dienen, dass es nicht angehen kann, die Schrift kritiklos anzusehen und die einzelnen Stellen einfach nebeneinander zu betrachten. Es gilt die Ergebnisse unserer Arbeit aus den vorigen Abschnitten hier mit einzubringen. Sie sind jetzt gleichsam die Grundlage, auf deren Hintergrund wir uns nun den zentralen Aussagen des Alten Testamentes nähern möchten.
e. Dennoch Einheit der Schrift in einem spezifischen Sinne
Auf der anderen Seite glaube ich aber trotzdem, an einer Einheit der Schrift - zumindest in einem ganz spezifischen Sinne - grundsätzlich festhalten zu dürfen.
Wir nehmen nämlich als Grundlage unserer Untersuchung, obwohl sie so verschieden sind, obwohl sie aus so unterschiedlichen Zeiten und von solch unterschiedlichen Autoren stammen, wir nehmen trotz der Uneinheitlichkeit dieser Schriften genau diese 46 Bücher, die wir zum Kanon des Alten Testamentes zählen.
Warum aber ausgerechnet die? Warum keine anderen? Hier setzen wir anscheinend stillschweigend eine gewisse Einheit dieser Bücher voraus; so etwas wie ein einigendes Band, das diese Schriften untereinander verbindet. Und hier kommen wir an einen Punkt, der unsere Überlegungen aus der Einführung in das Alte Testament übersteigt.
Während wir in den letzten Abschnitten kaum einmal den Glauben bemüht haben, spielt für die Frage nach der Theologie des Alten Testamentes die Besonderheit, die genau diese 46 Bücher für den Glaubenden darstellen, eine nicht unwesentliche, ja sogar die ganz zentrale Rolle. Auf dem Hintergrund des Glaubens erst eröffnet sich nämlich eine weitere Dimension der Schrift.
Wir können fragen, was diese Bücher in ihrer Gesamtheit von Gott künden, und wir können das sogar im Blick auf unsere heutige Zeit tun. Wir können das tun, weil wir davon ausgehen, dass diese Schriften eben nicht nur Dokumente aus einer vergangenen Zeit, also nicht nur Menschenwort sind. Für den Glaubenden beinhalten diese Schriften schließlich gleichzeitig Gottes Wort.
Für unsere folgenden Überlegungen setzen wir demnach immer voraus, dass sich in den Büchern des Alten Testamentes, so wie sie nun einmal geworden sind, dass sich ihn ihnen jene Selbstäußerung Gottes niedergeschlagen hat, die wir Offenbarung nennen. Unter der Berücksichtigung all der Fakten, die wir in den vorherigen Abschnitten gesammelt haben, fragen wir nun also, was der Text, so wie er nun einmal geworden ist, in seiner Letztgestalt, von diesem Gott kündet.
Wir setzen also den Glauben daran voraus, dass diese Bücher in ihrer Gesamtheit nicht einfach zufällig geworden sind. Dass wir diese 46 Bücher des alttestamentlichen Kanons heute so in dieser Gestalt vorliegen haben, das ist für uns das Ergebnis eines sinnhaltigen Prozesses. Und diesen Prozess führt der gläubige Mensch - unbeschadet alles menschlichen Handelns, das dazu von Nöten war - letztlich auf Gott zurück.
Auf dem Boden dieser Überzeugung soll im folgenden nach der Theologie, also nach der Auskunft dieser Bücher über diesen Gott und über das Verhältnis der Menschen zu diesem Gott, gefragt werden.