Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Der Mensch und sein "Lebensgeist" ⋅1⋅
- 1. Die ursprüngliche Wortbedeutung
- 2. רוּחַ ["ruach"] als Aktionszentrum des Menschen
- 3. Zum Verhältnis von רוּחַ ["ruach"] und נֶפֶשׁ ["næphæsch"]
- 4. Die רוּחַ ["ruach"] als Ansatzpunkt für das Eingreifen Gottes
Gerade der eben genannte Begriff, der Begriff der נֶפֶשׁ ["næphæsch"], verweist uns nun auf den dritten Terminus, den es hier zu untersuchen gilt.
Ezechiel setzt das "Herz aus Fleisch" in Ez 11,19 und Ez 36,26 nun darüber hinaus mit einer "neue רוּחַ ["ruach"]" parallel:
"Und ich werde euch ein neues Herz geben und eine neue רוּחַ ["ruach"] in euer Inneres geben, euer steinernes Herz wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben." (Ez 36,26)
Der Ausdruck "neue רוּחַ ["ruach"]" wird bei uns meist übersetzt mit "neuer Geist".
1. Die ursprüngliche Wortbedeutung ⋅2⋅
Doch hat auch dieser hebräische Begriff eine bewegte Geschichte, die ihm einen recht breiten Bedeutungshorizont zugewiesen hat.
Ursprünglich bedeutet רוּחַ ["ruach"] der Wind. Aber wohl nicht so sehr das Naturphänomen an sich, sondern mehr die Kraft, die im Wind begegnet, eine Kraft, deren Woher und Wohin rätselhaft ist.
Dies wird auch noch einmal dadurch unterstrichen, dass fast alle Verben, die mit dem Wort רוּחַ ["ruach"] in Verbindung gebracht werden, Verben der Bewegung und des In-Bewegung-Setzens sind.
Von dieser Bedeutung her, wird das Wort רוּחַ ["ruach"] nun auch zum Ausdruck für den menschlichen Atem. Der Atem ist schließlich der Wind im Menschen.
Dabei bezeichnet רוּחַ ["ruach"] weniger den normalen, ruhigen Atem. Dafür steht meist das hebräische Wort נְשָׁמָה ["neschamah"]. רוּחַ ["ruach"] ist vielmehr der heftige Atem, oder besser gesagt: die dahinterstehende Kraft. ⋅3⋅
So bezeichnet רוּחַ ["ruach"] etwa den keuchenden Atem des eifersüchtigen Menschen und damit auch die dahinterstehende Kraft, also den "Geist der Eifersucht" selbst, jene unheimliche, den Menschen mitreißende Kraft, die zum Mord führen kann.
רוּחַ ["ruach"] in der Bedeutung Wind und Atem meint also immer das Besondere, Außergewöhnliche, das besondere, zeitlich begrenzte Erregtsein des Windes oder des Atems. Das ist für das richtige Verständnis dieses Begriffs wichtig.
2. רוּחַ ["ruach"] als Aktionszentrum des Menschen
Seit Ezechiel, also seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. wird die רוּחַ ["ruach"] nun immer stärker auch als so etwas wie ein inneres Aktionszentrum des Menschen in den Vordergrund gestellt. ⋅4⋅ Sie wird dabei, wie wir das bei Ezechiel bereits gesehen haben, gerne mit dem Begriff "Herz" parallelisiert. Dadurch wird רוּחַ ["ruach"] ähnlich wir das vom Ausdruck נֶפֶשׁ ["næphæsch"] her schon kennen, auch immer stärker zu einem Ausdruck für das "Ich" des Menschen. ⋅5⋅
3. Zum Verhältnis von רוּחַ ["ruach"] und נֶפֶשׁ ["næphæsch"]
Insgesamt geht die Bedeutung des Wortes רוּחַ ["ruach"] auch darüber hinaus recht häufig in die Nähe des Begriffs נֶפֶשׁ ["næphæsch"]. Vor allem in der Priesterschrift ["P"] ist das der Fall.
So heißt es etwa in Gen 6,17:
"Ich will nämlich die Flut über die Erde bringen, um alle Wesen aus Fleisch unter dem Himmel, alles, was Lebensgeist in sich hat, zu verderben. Alles auf Erden soll verenden." (Gen 6,17.)
Für den Ausdruck "was Lebensgeist in sich hat", heißt es hier im Original nicht etwa נֶפֶשׁ חַיִים ["næphæsch chajjim"] sondern רוּחַ חַיִים ["ruach chajjim"], mit genau der gleichen Bedeutung. Ähnlich gilt das auch für Gen 7,15.
Trotzdem gibt es natürlich deutliche Unterschiede zwischen dem Bedeutungsgehalt der Wörter נֶפֶשׁ ["næphæsch"] und רוּחַ ["ruach"].
נֶפֶשׁ ["næphæsch"] bleibt insgesamt mehr im Bereich von Funktionen der äußeren und inneren Vitalität. Da geht es stärker um den Lebenstrieb, der dem Menschen innewohnt.
Die רוּחַ ["ruach"] übersteigt diese Funktionen, gleichsam in den Bereich jener typisch menschlichen inneren Akte hinein, den man früher höhere Seelentätigkeiten genannt hat. Hier geht es also stärker um das Erkennen und Wollen und insbesondere die willentlich gesteuerte Erkenntnis und Anerkenntnis des ethisch Guten.
Ein typisches Beispiel für diesen Bedeutungsgehalt des Wortes ist etwa Psalm 51. Dort heißt es:
"Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und gib mir eine neue und beständige רוּחַ ["ruach"]!" (Ps 51,12) ⋅6⋅
Hier meint רוּחַ ["ruach"] demnach eine dauernde innere Ausrichtung des Menschen auf Gott hin. Etwas, was den Menschen in einer bewussten Entscheidung auf Gott hin treibt. Das ist etwas anderes, als die stärker die einfache Vitalität umschreibende Lebenskraft, die נֶפֶשׁ ["næphæsch"].
Als weiteres Beispiel kann auch Spr 11,13 dienen. Dort lesen wir:
"Wer als Verleumder umherzieht, gibt Geheimnisse preis, doch der 'רוּחַ ["ruach"]-Verlässliche' behält die Sache für sich." (Spr 11,13) ⋅7⋅
Hier meint רוּחַ ["ruach"] also einen Antrieb, der den Menschen in der Verlässlichkeit, in der Treue hält, den Geist der Verlässlichkeit.
4. Die רוּחַ ["ruach"] als Ansatzpunkt für das Eingreifen Gottes
Der Begriff רוּחַ ["ruach"] zielt also vorab in Richtung Erkennen und Wollen und in Richtung willentlich gesteuerte Erkenntnis und Anerkenntnis des ethisch Guten. Deshalb verwendet man diesen Begriff auch häufig, wenn es darum geht, deutlich zu machen, dass Gott in einen Menschen hineinwirkt. Die geheimnisvollen Einwirkungen Gottes auf das menschliche Innere setzt also - im Denken des Hebräers - zumeist bei der רוּחַ ["ruach"] an.
Ein schönes Beispiel hierfür finden wir beim Propheten Haggai:
"Jahwe weckte die רוּחַ ["ruach"] des Statthalters von Juda, Serubbabel ... und die רוּחַ ["ruach"] des Hohenpriesters Jeschua ... und die רוּחַ ["ruach"] all derer, die vom Volk noch übrig waren, so dass sie kamen und die Arbeit am Tempel ihres Gottes ... aufnahmen." (Hag 1,14) ⋅8⋅
Aber wie Jahwe, so können auch andere Einflüsse an der רוּחַ ["ruach"] ansetzen. Sie ist ganz generell für Anstöße von außen offen, und dies auch im negativen Sinn.
Hosea nennt so eine רוּחַ ["ruach"] der Hurerei", also einen "Geist der Hurerei" als böse Macht, die den inneren Menschen in Beschlag nimmt. Es heißt in Hos 4,12
"Die רוּחַ ["ruach"] der Hurerei führt mein Volk in die Irre. Es hat seinen Gott verlassen und ist zur Dirne geworden." (Hos 4,12)
Hier ist es also der orgiastische Baalsdienst, der das Innere des Menschen erfasst und ihn umtreibt.
Anmerkungen
(Vgl.: Christian Schütz, Einführung in die Pneumatologie (Darmstadt 1985) 147.)