Die Bibel

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Weiter-ButtonZurück-Button Jahwe als Vater und Mutter ⋅1⋅

Damit kommen wir aber zum zweiten Aspekt, mit dem die prophetische Verkündigung die Zuwendung Gottes zu den Menschen ins Wort bringt.

In Ex 4,22 trägt Gott dem Mose auf, zum Pharao zu gehen. Dort soll er sprechen:

"So spricht Jahwe: Israel ist mein erstgeborener Sohn. Ich habe dir befohlen: Entlasse meinen Sohn, dass er mir diene!" (Ex 4,22.)

Hier wird das Volk in seiner Gesamtheit demnach als Sohn bezeichnet. Die Beziehung zwischen Jahwe und Israel wird als Sohn-Vater-Beziehung vorgestellt. Wie weit diese Tradition tatsächlich zurückreicht, ist heute nicht mehr bis ins letzte zu eruieren. Zur Zeit der Propheten ist sie auf jeden Fall ganz tief verwurzelt. In der prophetischen Verkündigung wird das Bild vom Sohnes-Verhältnis immer wieder aufgenommen.

1.  Hosea

Schon bei Hosea also um 750 v. Chr. finden wir dieses Urthema des Vater-Sohn-Verhältnisses in seiner ganzen Fülle ausgedrückt. Hos 11 stellt sogar so etwas wie einen Spitzentext des ganzen Alten Testamentes dar:

"Als Israel jung war, gewann ich es lieb, und aus Ägypten rief ich meinen Sohn. Aber je mehr ich sie rief, desto mehr wandten sie sich von mir ab; sie opferten den Baalen, den Götzenbildern brachten sie Rauchopfer dar. Und doch habe ich Efraïm das Gehen gelehrt, habe es auf meine Arme genommen, aber sie erkannten nicht, dass ich sie hegte. Mit Banden der Güte zog ich sie, mit Seilen der Liebe; ich war wie einer, der einen Säugling an seine Wange hebt. Ich beugte mich zu ihm und gab ihm zu essen. Zum Lande Ägypten wird es zurückkehren, und Assur wird sein König sein, weil sie sich nicht bekehren wollten. Das Schwert wird wüten in seinen Städten und vertilgen seine Kinder, es wird fressen in seinen Burgen.
Aber mein Volk ist krank an seinem Abfall, zum Baal rufen sie, doch der hebt sie nicht auf. Wie könnte ich von dir lassen, Efraïm, dich preisgeben, Israel? Wie könnte ich von dir lassen gleich Adma, dich gleichstellen Zebojim? Mein Herz kehrt sich um in mir, und zugleich regt sich mein Mitleid. Nicht will ich tun, was die Glut meines Zornes mir eingibt, nicht Efraïm wieder verderben. Denn Gott bin ich und nicht ein Mensch, heilig in deiner Mitte, ich liebe es nicht, zu verderben." (Hos 11,1-9.)

Es gibt auch keinen neutestamentlichen Text, der diese Stelle an Innigkeit, Wärme und Großartigkeit übertreffen würde. Durch den Mund des Propheten Hosea stellt sich Jahwe hier als ein Vater vor, der ganz in der Zuwendung zu seinem Sohn aufgeht.

Auffallend ist dabei, dass 'Vater' in diesem Zusammenhang ganz anders verstanden wird, als sonst bei den Semiten üblich. Normalerweise liegt dort der Schwerpunkt ja zunächst auf dem Familien- oder Sippenoberhaupt. Hier, bei Hosea, begegnet uns ein Vater-Bild, das vor allem auf das innere Wesen dieses Vaters abhebt, auf seine Zuwendung, seine Liebe, seine Großmut. Im Grunde eine äußerst moderne Vorstellung vom Vater, die hier zum Tragen kommt.

2. Jeremia und Jesaja

Bei Jeremia, den Alfons Deissler als geistigen Schüler Hoseas bezeichnet, treffen wir dann genau dieses Vaterbild wieder an. So heißt es in Jer 31,20:

"Ist mir denn Efraïm ein so teurer Sohn? Ist er mein Lieblingskind? Sooft ich ihn auch schelte, immer wieder muss ich an ihn denken. Deshalb schlägt ihm mein Herz entgegen, ich muss mich seiner erbarmen, spricht Jahwe." (Jer 31,20.)

Im dritten Teil des Jesaja-Buches erinnert Israel dann seinerseits Gott an dieses Vatersein und bittet ihn, sich gnädig zu erweisen:

"Und doch, Jahwe, du bist unser Vater; wir sind der Ton, du bis unser Bildner; das Werk deiner Hände sind wir alle. Zürne nicht allzusehr, Jahwe, und gedenke nicht auf ewig unserer Schuld. Siehe, blicke her, wir alle sind dein Volk!" (Jes 64,7-8.)

3. Das Sprechen von der Mütterlichkeit Gottes

Doch nicht nur das Sprechen vom Vater-Sein Jahwes begegnet uns in der Bibel. Wir haben ja bereits gesehen, dass der Gott Israels ein übergeschlechtlicher Gott ist. So gibt es mindestens genauso viele mütterliche Aussagen von Gott wie väterliche. Gott ist in gleicher Weise Vater und Mutter seines Volkes.

Das Alte Testament ist also nicht einseitig patriarchalisch ausgerichtet. In Jes 49,15 etwa vergleicht sich Gott selbst mit einer Mutter. Es heißt dort:

"Vergisst wohl eine Frau das Kind, das sie nährt; hört sie auf, den Sohn ihres Schoßes zu lieben? Und wenn sie es vergäße, ich vergesse dich nicht." (Jes 49,15.)

Und Jes 66,13 heißt es:

"Wie eine Mutter werde ich euch trösten." (Jes 66,13.)

Hinzu kommt, dass in der hebräischen Sprache - und demnach auch im Denken des Hebräers - Barmherzigkeit durchweg ein mütterlicher Wesenszug ist.

Das Wort für Barmherzigkeit - רַחֲמִים ["rachamim"] - kommt vom hebräischen Wort רֶחֶם ["ræchæm"]. Und רֶחֶם ["ræchæm"] ist gleichbedeutend mit "Mutterschoß" (vgl. Ex 34, Hos 11; Jer 31 u. a. m.).

Auch in der mesopatamischen Zeichenschrift erscheint für "Barmherzigkeit" das Zeichen des offenen Kastens. Dieses Zeichen allein bedeutet dort Weite und Geborgenheit. Und wenn man diesem Zeichen nun das Symbol für "Frau" beifügt, dann steht das so entstehende Bildzeichen für das Wort "Barmherzigkeit". Auch in Mesopotamien ist also Erbarmen vorab ein mütterlicher Zug.

In der Barmherzigkeit erweist sich also Jahwes "Mütterlich-Sein". Wenn sich Gott der Menschen erbarmt, dann ist er wie eine Mutter zu ihrem Kind.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkung

1 Vgl.: Alfons Deissler, Die Grundbotschaft des Alten Testaments (Freiburg 1972) 105-107; Alfons Deissler, Einleitung in das Alte Testament - Zusammenschrift entsprechend einer autorisierten Vorlesungsmitschrift des WS 1969/70 bzw. einer nicht autorisierten Mitschrift anhand von Bandaufnahmen des WS 1976/77 mit teilweisen Ergänzungen für das WS 1979/80 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 181. Zur Anmerkung Button